Jean-Pierre, 67 Jahre alt, verwitweter Rentner, dem Misanthropischen zuneigend, wacht auf, fühlt sich beengt und eingegrenzt ob des ganzen Gipses, den sein Körper umgibt. Wie er hier hingekommen ist, weiß er nicht, die Erinnung fehlt zur Gänze, hier, im Krankenhaus jedenfalls ist derjenige, der mit einem Haufen gebrochener Knochen aus der Seine gefischt wurde… Er, der sonst nur den eigenen Launen ausgeliefert ist, ist es hier dem Krankenhausbetrieb, das ihn erst einmal reduziert auf seine Defekte: das gebrochene Becken, das kaputte Bein, den Gedächtnisverlust. Ein Faktum, welches die Laune des Darniederliegenden nicht hebt.
Bekannt ist, daß ein junger Mann ihn aus dem Fluss zog und sofort die Ambulanz alarmierte, was er jedoch am frühen Morgen, am sehr frühen Morgen an der Seine wollte, weiß er nicht mehr. Sicher ist er sich jedoch, daß es kein Suizidversuch war, am ehesten noch ist ein fulminanter Unfall anzunehmen, der ihn in den Fluss beförderte.
Drastisch führt ihm das Krankenhausleben seine Abhängigkeit von anderen Menschen vor Augen. Da er sich nicht bewegen darf, ist er für alles auf die Hilfe anderer angewiesen, was ihm auch einen neuen Blick auf sich selbst verschafft, sozusagen ein Blick von aussen. Seine Privatsphäre ist stark reduziert, zu gleicher Zeit mit der rhetorischen Frage, ob er etwas dagegen habe, wird das Betttuch weggezogen, er vom Doktor in seiner Nacktheit den angehenden Ärzten und Ärztinnen als Fall präsentiert. Daß prinzipiell die Tür zu seinem Zimmer offen gelassen wird, ist da ein eher harmlos erscheinendes Detail. Ebenso wenig kann er verhindern, daß der eine oder andere Besuch in seinem Zimmer erscheint, meist unwillkommen, aber oft kaum abzuschütteln…
Was macht man mit der Zeit, wenn sie zum einzigen wird, über das man verfügen kann? Man denkt über sein Leben nach… so auch unser Held. Seine Kindheit und Jugend in einem Elternhaus mit linker Gesinnung, ein wenig am Vorbild des Vaters leidend (dieser ist in den Bemerkungen der Menschen ein „Jemand“, er fühlt sich dagegen als „Niemand“), die Pubertät und Adoleszenz, in der er sich zusammen mit seinem Freund gegen die Mode der Beatgeneration und Hippies stellt.. all das geht ihm durch den Kopf, zumal er seit kurzen wieder Kontakt zu seinem damaligen besten Freund hat.
Der Polizist, der seinen Fall aufgenommen hat, kommt des öfteren bei ihm vorbei, in seinem mumienartigen erinnert ihn Jean-Pierre an den eigenen Vater, zu dessen Tod er seinerzeit nicht rechtzeitig hatte kommen können. Bald stellen sie fest, daß sie die gleiche Leidenschaft haben: alte Schwarzweiß-Filme zu schauen….
Camille kommt, der junge Student, der ihm das Leben rettete. Was Camille gegen fünf Uhr morgens an der Seine zu suchen hatte, wird schnell klar: er muss sich als Stricher verdingen, um sein Studium zu finanzieren. Obwohl Jean-Pierre über die soziale Notlage, die junge Menschen in solch auswegslose Situationen bringt, betroffen ist, gelingt es ihm, durch seine kompromisslos verletzende Art Camille zu verletzen und zu vergraulen….
Zur See ist Jean-Pierre gefahren, als Angestellter eines Handelsunternehmens. Die ganze Welt hat er gesehen, während zu Hause seine Frau Annie auf ihn wartete. Fehlgeburten, die langen Abwesenheiten, die irgendwann auch etwas von Fluchten hatten, all das führte zur Entfremdung zwischen beiden und daß Annie am Absterben war nach der letzten Fehlgeburt, wollte er nicht wahrhaben. Er war weit weg bei ihrem Tod, schaffte es nicht rechtzeitig zur Beerdigung zurück zu sein. Die Blumen, die die Schwiegereltern in seinem Namen ans Grab legen sollten, waren ihnen zu einfach, blaue Disteln, wussten sie nicht, daß es Annies Lieblingsblumen waren? So fühlte sich der Mann endgültig um seinen Abschied gebracht, als er endlich am Grab stand und die Rosen sah, in seinem Namen und mit einem dummen Spruch versehen.
Die nervige Göre, die ihn andauernd stört und ihm den Laptop entführt, facebook und so. Warum das fettige, dicke Mädchen im Krankenhaus ist, weiß er nicht, aber sie ist ausdauernd und er fast bewegungsunfähig…. sie läßt sich nicht vertreiben, ignoriert sein „Nein!“ und wird zur ständigen Einrichtung in seinem Zimmer….
Und dann selbstverständlich noch die natürlichen Bewohner eines Krankenhauses: das Pflegepersonal, die Schwestern, die Ärzte, die Physiotherapeuten… ein reges, buntes Treiben, das sich in Jean-Pierres Zimmer abspielt… ohne, daß er es eigentlich will, merkt er, daß er den/die fast schon vermisst, wenn er/sie nicht auftaucht, daß er sich – man staune! – fast schon freut, zumindest nicht ärgert, wenn… besonders die völlig verunglückte Begegnung mit Camille, seinem Lebensretter, beschäftigt ihn und er versucht, das wieder hinzubiegen….
… und dann kommt der Tag, an dem er einen kleinen lächelnden und sabbernden Wurm in den Armen wiegt und dabei fotografiert wird, von Maëva, diesem seltsamen 14jährigen Rotzgör, die auf einmal so schlank ist… jetzt weiß er, warum sie im Krankenhaus ist….
So geht es dann langsam wieder aufwärts mit Jean-Pierre und er kann entlassen werden. Wie er jedoch in seiner Wohnung im 3. Stock zumindest die erste Zeit zurecht kommt (die Treppen, das Einkaufen), das ist noch nicht so klar, ein wenig Hilfe könnte er gut gebrauchen…..
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Marie-Sabine Roger ist mit „Das Leben ist ein listiger Kater“ (ein Titel, mit dem ich nun überhaupt nichts anfangen kann, da ich mit Katern vor allem einen recht penetranten Gestank verbinde….) ein netter, unterhaltsamer Sommerroman gelungen. Die Geschichte ist fein portionierte in Abschnitte, die meist nur zwei, drei Seiten lang sind, so daß man das Buch auch jederzeit zur Seite legen kann, ohne den Faden zu verlieren. Die zwei Erzählstränge, d.h. das aktuelle Geschehen im Krankenhaus und die Erinnerungen des Mannes an sein vergangenes Leben, sind ineinander verwoben und wechseln sich ab, so daß man parallel zur der körperlichen Gesundung des Patienten und der Wandlung seines Wesens auch seine Geschichte erfährt und damit vllt die Antwort auf die Frage nach dem „Wieso“ ist er so geworden. Na ja, vllt nicht die Antwort, aber ein paar Hinweise, denn naturgemäß kann ein doch recht schmales Büchlein mit großzügigem Satz eine derart komplexe Frage (so sie überhaupt beantwortbar ist) nicht wirklich klären…. wobei wir als Leser jedoch Zeugen werden, ist die langsame Verwandlung eines einsamen, vllt sogar leicht verbitterten Mannes in eine Wesen, das die Existenz anderer Menschen wieder schätzen lernt.
Wenn man mag, kann man dem Roman sogar sozialkritisches entnehmen: die soziale Notlage vieler Studenten, die diese zu ungewöhnlichem Gelderwerb zwingt, die teilweise entwürdigende Behandlung von Patienten, die auf „Fälle“ reduziert werden, im Krankenhaus, die schwierige Problematik von Mädchen, die schon im Kindesalter schwanger werden…. alles nur angerissen, erwähnt, aber möglicherweise Anstoß für eigene Gedanken.
Da Roger ihren „Helden“ bewegungslos in einem Krankenhausbett platziert, muss sie seinen Charakter auf andere Art und Weise denn durch Handlung charakterisieren. Sie macht es durch die Sprache, die sie ihm in den Mund bzw. die Gedanken legt: respektlos, verletzend, grob, zum Teil entwürdigend. Das mag man als lustig empfinden, als unterhaltend, mich hat es nicht immer überzeugt, weil es mir manchmal arg dick aufgetragen vorkam: ein Heischen der Autorin/Übersetzerin nach Wirkung? Anyway….
….. ist „Das Leben….“ ein kleiner, lohnender Spaß für ein, zwei Sommernachmittage auf einer Liege unter einem Baum, ein kühles Getränk in der Nähe, ein wenig Gezwitscher von Vögeln im Ohr…. und die Wärme der Sonne auf der Haut. Und solcherart entspannte Stunden sind nicht wenig im Leben…. das hübsche Cover mit seiner sommerlich-herbstlichen Atmosphäre trägt ein übriges bei zum insgesamt doch positiven Eindruck und daß neben dem Teufel, der ja bekanntlich ein Eichhörnchen ist, das Leben als listiger Kater daherkommt, war mir zwar nicht bekannt, aber diese bislang verborgene Tatsache bietet dem freien Spiel der Assoziationen viel Nahrung…
Links und Anmerkungen:
[1] zur Autorin gibt es nicht allzuviel im Netz, natürlich den fast obligatorischen Wiki-Beitrag: http://de.wikipedia.org/wiki/Marie-Sabine_Roger
Marie-Sabine Roger
Das Leben ist ein listiger Kater
Übersetzt aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer
Originalausgabe: Bon rétablissement, Èditions du Rouergue, 2012
diese Ausgabe: Atlantik-Verlag, HC, ca. 224 S., 2014
Klingt wirklich spannend. Kommt zum Sub:) Der Schlingensief muss noch warten. Meine Büchereikarte ist abgetaucht:) aber irgendwann taucht sie wieder auf.
Deine Rezensionen machen mich immer so neugierig. Vielen Dank dafür! LG Xeniana
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