Emmanuèle Bernheim: Alles ist gutgegangen

„Alles ist gutgegangen“: der Titel dieses schmalen Büchleins klingt nach einem hoffnungsvollen Ausruf. Er ist es mitnichten. Mit diesem Satz übermittelt eine Dame aus der Schweiz der französischen Autorin Emmanuèle Bernheim, daß der assistierte Suizid, den ihr Vater für sich gewählt hatte, gelungen sei, friedlich gelungen.

André Bernheim war ein Pariser Kunstsammler, ein lebhafter, intelligenter Mensch voller Neugier, voller Entdeckungsdrang und -freude. Er war eloquent, konnte sicher auch charmant sein. Aus seiner Ehe hatte er zwei Töchter, Emmanuèle und ihre jüngere Schwester Pascal. Ganz offensichtlich lag es aber auch in der Natur ihres Vaters, Männer zu mögen, er war vielseitig interessiert.

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Es war ein gelungener Abend mit einem neuen Kinofilm und dem Besuch eines neueröffneten Restaurants. Doch im Anschluss erlitt der 88jährige André Bernheim einen schweren Schlaganfall mit Lähmungserscheinungen, zeitweiligem Sprachverlust, er konnte nicht mehr schlucken und auch das Sehvermögen war beeinträchtigt. Beschwerden, die sich im Lauf der nächsten Tage bessern sollten, so daß er in eine Reha-Klinik verlegt werden konnte.

Bei einem der Besuche durch seine Tochter Emmanuèle kommt er ohne Umschweife zum Thema: „Ich möchte, daß du mir hilfst, Schluss zu machen.“ Fluchtartig verläßt die Tochter daraufhin das Zimmer ihres Vaters.

Vielleicht ist jetzt der richtige Moment, etwas über die Tochter Emmanuèle und ihr Verhältnis zum Vater zu sagen. Denn mit dieser eher einem Befehl denn einer Bitte gleichenden Aufforderung des Vaters brechen anscheinend noch nicht bewältigte Traumata aus Kindheit und Jugend wieder auf. Auf das Buch übertragen heißt dies, das jetzt auch das Buch kippt, was wie eine „normale“ Kranken- bzw. Sterbebegleitung anfing, richtet seinen Fokus jetzt auf die Tochter und weniger auf den Kranken.

Emmanuèle war als Mädchen offensichtlich füllig, um nicht zu sagen, dick. Über die Gründe läßt sich spekulieren (mit Hinblick auf den Vater…), der Vater jedenfalls kommentierte diese Körperfülle der Tochter mit „kolossal“ und „du schaffst es noch nicht einmal, dir einen Typen zu angeln“, noch jetzt im Krankenbett amüsiert er sich köstlich, als er erfährt, daß sein Vater (der Opa Emmanuèles) diese als „monströs“ bezeichnet hat. Die einfache Aufforderung im Lokal z.B: „Schlängel dich durch!“, als sie wieder auf ihren Platz will, wirft sie in ihre Kindheit zurück, als sie aufgrund ihrer Dickheit alles konnte, nur nicht sich schlängeln…. bei einer Reise nach England benutzten Vater und Tochter dort die Bahn. Aus „Verschulden“ des Mädchens versäumten sie die Station, der Vater sprang aus dem anfahrenden Zug und „nötigte“ die Tochter, ebenfalls aus dem mittlerweile schneller fahrenden Zug zu springen – Verletzungen waren die Folge. Zu den Geburtstagen ruft er an und singt am Telefon Lieder, von denen er weiß, daß sie die Tochter ärgern… es ließen sich noch andere Beispiele aufzählen, aber diese sollten reichen, um deutlich zu machen, welchen Eindruck ich gewonnen habe: André Bernheim war ein rücksichtsloser Mensch und Vater, der sich in den Mittelpunkt stellte und der sich nicht um die Bedürfnisse anderer kümmerte. Und Emmanuèle bemühte sich schon als Kind, sich die Liebe ihres Vaters zu verdienen [3], so wie sie jetzt, in dieser Situation, bereit ist, die Sterbehilfe für ihren Vater zu organisieren.

Denn natürlich entspricht sie dem Wunsch des Vaters, sie redet mit der Schwester, informiert sich und versucht, den Wunsch des Vaters umzusetzen. In Frankreich ist dies nicht möglich, aber sie bekommt eine Adresse in der Schweiz und dort wird letztlich der Suizid des Vaters vollzogen. Des Vaters, dem es im Verlauf der Schilderung eigentlich immer besser geht. Natürlich gibt es auch Rückschläge und Tiefs, aber die generelle Befindlichkeit, der Allgemeinzustand bessert sich deutlich, die Therapeuten und Ärzte sind optimistisch.

Emmanuèle Bernheim, Bildquelle [1]
Emmanuèle Bernheim,
Bildquelle [1]
Schlechter dagegen geht es der Tochter. Sie leidet unter Schlaflosigkeit, muss Beruhigungsmittel und Antidepressiva einnehmen, geht wieder in die Praxis eines Therapeuten (es ist nicht klar, welcher Profession). Sie, die durch den Vater ohne Vorbereitung, ohne irgendeine Art von „Moderation“ in diese unsägliche, belastende Situation hineingestoßen worden ist (und die eine gehorsame Tochter ist), wird damit sichtlich nicht fertig. Zwar gelingt es ihr, das rein organisatorische zu regeln und in die Wege zu leiten, aber die Verarbeitung des Todeswunsches ihres Vaters und ihrer eigenen Rolle darin – das kann ihr nicht gelingen. Erst ganz am Ende des monatelangen Zeitraums bis zum vereinbarten Termin kommt Widerstand auf, spätestens als der liebenswerte Vater seinen amerikanischen Cousinen erzählt, seine Töchter hätten genug von ihm und sie würden ihn zwingen, in der Schweiz Suizid zu machen….. als Emmanuèle dies erzählt bekommt, wird sie von der Vorstellung ihrer Hände am Hals des Vaters beherrscht und in Gedanken drückt sie zu und drückt und drückt ….

Der Todeswunsch des Vaters – ein sehr persönlicher Wunsch, den nachzuvollziehen nicht leicht fällt [vgl. auch 2]. Bei André Bernheim differieren nach dem Schlaganfall die verbliebenen Möglichkeiten, die das Leben für ihn noch bereit hält, offensichtlich so weit von seinen Wunschvorstellungen, daß sich das Leben für ihn nicht mehr lohnt, er sich selbst in dem Menschen, der vom Schlag gezeichnet im Bett liegt, nicht wieder erkennt: „Das bin nicht Ich!„. Es ist eine einsame Entscheidung, Interessen anderer Menschen sind nicht berücksichtigt, obwohl er sie ohne Zögern in sein Vorhaben involviert. Auch dies eine schwierige Frage: Inwieweit muss ich in solch einer Situation auf andere Rücksicht nehmen? Oder gehört mein Sterben, mein Tod nur mir und sonst niemanden? Eine Antwort darauf muss wohl jeder Mensch für sich finden, denn diese Frage stellt sich natürlich auch bei einem „normalen“ sterben: der Sterbende möchte beispielsweise eigentlich allein sein, doch Verwandte, Bekannte wollen ihn noch einmal besuchen, Abschied nehmen…. beide Parteien haben ein Recht auf ihren Wunsch… schwierig, schwierig…

André Bernheim freut sich auf seinen Tod, den er als Erlösung sieht, dieses Eindrucks kann man sich nicht verwehren. Das letzte Essen im Lokal, seit Monaten steht die Speisefolge vor seinen Augen, der Abschied vom geschätzten Kellner, er fiebert dem Tag, diesem Tag, entgegen. Aus der Schilderung im Buch wird der äußerlich Widerspruch immer eklatanter: der Todeswunsch des Mannes, weil er sein Leben als nicht mehr lebenswert empfindet und der allgemeine Zustand, der immer besser zu werden scheint…. Ganz anders dagegen die Tochter, die diese „Reise“ in die Schweiz zu organisieren hat. Sie leidet und kann nur noch mit Tabletten über die Zeit kommen.

Fast wie in einem Skript zu einer Komödie tauchen am Ende noch einige Probleme auf… das Vorhaben wird an die Polizei verraten, die die Tochter daraufhin vernimmt, der Vater wird „versteckt“, dem Zugriff durch die Polizei dadurch entzogen…. die Krankenwagenfahrer, die den Mann in die Schweiz bringen und denen er im Restaurant erzählt, warum er in die Schweiz gefahren ist, sind Muslime, die sich aus Glaubensgründen weigern, ihn zu einem Suizid zu fahren… irgendwie muss André Bernheim sie aber trotzdem überzeugt haben, denn die Tochter, die diese letzte Reise, auch aus Zorn über den Vater und sein Verhalten, nicht mitgemacht hat, bekommt besagten Anruf: „Tout c´est bien passé!“

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Die Lektüre von „Alles ist gutgegangen“ hinterläßt einen zwiespältigen Eindruck, es ist das ungute Gefühl, hier sei etwas beschrieben worden, das „irgendwie“ falsch gelaufen ist… ich selbst bin, das kann ich zugeben, Verfechter der Selbstbestimmungsrechts jedes einzelnen Menschen und konsequenterweise umfasst dies auch die Selbstbestimmung am Ende des Lebens, sprich die Art und Weise des Sterbens und des eigenen Todes – soweit sich dies (in realiter) beeinflussen läßt. Selbst der Suizid ist in (subjektiv) verzweifelten Situationen als Lösungsstrategie anzuerkennen (ihn zu verhindern heißt daher, andere Lösungswege für das Problem, das nur durch die Flucht den eigenen Tod lösbar scheint, aufzuzeigen). Trotzdem… vllt liegt der Knackpunkt für mein Bauchgrimmen in der Randbedingung „.. am Ende des Lebens..“, denn dem Eindruck, den ich aus den Schilderungen von Emmanuèle Bernheim gewinne, bezweifel ich dies: der Allgemeinzustand des Vaters besserte sich deutlich, er war kommunikationsfähig, konnte sich mitteilen, an Dingen erfreuen: er hätte sich durchaus einfinden können in ein zugegebenermaßen eingeschränktes Leben. Aber das wollte er nicht.. ob diese Situation so verzweifelt war, daß keine andere Lösung denkbar war, ist von außen nicht zu beurteilen, diskutiert wurde jedenfalls nicht darüber, Alternativen wurden nicht benannt, die Tochter gehorchte einfach nur – den Problemen nach, die sie schildert, wider besseres Wissen, zumindest wider ihre eigene Überzeugung.

Ist das ein Missbrauch? Kein physischer natürlich, aber ein psychischer? Missbraucht der Vater hier seine Tochter, die ihm widerstandslos gehorcht, dazu, gegen ihre eigene Überzeugung zu handeln, um seinen Willen (der einzige, der für ihn zu zählen scheint) durchzusetzen? In Äußerungen Dritter gibt E. Bernheim dies andeutungsweise wieder: „Ich hätte es durchgezogen, ohne meine Töchter da mit reinzuziehen.“ äußert ein Bekannter seine Meinung (zitiert aus dem Gedächtnis). Es sei dem kranken Vater zugebilligt, von den Schwierigkeiten, die die Tochter mit seiner Aufforderung, ihm den Suizid zu ermöglichen, nichts direkt zu bemerken (E. Bernheim wird dies auch vor ihm verheimlicht haben), aber es wird auch nicht im Ansatz etwas geschildert, nach dem man vermuten könnte, es würde André B. überhaupt interessiert haben.

Wie gesagt, zwiespältige Gefühle.. die beste Grundlage für Diskussionen….

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Dieser autobiographische Bericht ist szenisch aufgebaut, mit vielen Dialogen, er liest sich daher schnell, schneller jedenfalls als man ihn verdaut. Die Autorin ist offen was ihre Probleme angeht, die sich heranschleichende Abhängigkeit von den Psychopharmaka, die sie nehmen muss, die vielen Erinnerungen an ihre Jugend, auch die für sie schweren Zeiten mit großer psychischer Belastung. Zwar hebt sie an einer Stelle hervor, ihr Vater habe sie nie zu etwas gezwungen (Berufswahl, Ausbildung u.ä.), aber brauchte er das überhaupt? War E. Bernheim nicht zeit ihres Lebens bestrebt, ihrem Vater zu gefallen, um seine Liebe zu erringen?

Ein Gläschen Champagner wäre ihm lieber gewesen, so sollen die letzten (?) Worte des Vaters gelautet haben, als er den tödlichen Cocktail trank, von einem Abschiedsgruß dagegen an die Töchter wird nicht berichtet.

Links und Anmerkungen:

[1] Wiki-Artikel zur Autorin: http://de.wikipedia.org/wiki/Emmanu%C3%A8le_Bernheim, Autorenbild: Fotograph: Claude Truong-Ngoc [CC-BY-SA-3.0         (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)%5D, via Wikimedia Commons
[2] zum Einstieg der momentan in Deutschland laufenden Debatte zur Beihilfe bei Suizid: https://www.facebook.com/SterbenTrauerTod/posts/715017598542350?stream_ref=1
[3] nach Erich Fromm ist Mutterliebe ja unbedingt: sie ist da oder auch nicht. Die Liebe des Vaters hingegen kann man sich verdienen: durch Gehorsam, durch Leistung…. oder man kann sie verlieren: durch Ungehorsam, durch Enttäuschung… vgl. Erich Fromm: Die Kunst des Liebens:  https://radiergummi.wordpress.com/2011/07/17/erich-fromm-die-kunst-des-liebens/

Emmanuèle Bernheim
Alles ist gutgegangen
Französische Originalausgabe: Tout c´est bien passé, Edition Gallimard, Paris, 2013
Übersetzt aus dem Französischen von Angela Sanmann
diese Ausgabe: Hanser Berlin, HC, ca. 206 S., 2014

13 Kommentare zu „Emmanuèle Bernheim: Alles ist gutgegangen

  1. Das Buch habe ich auch kürzlich als Tipp abgegeben; kam aber beim Reinlesen in diesen schrecklichen Schreibstil nicht hinein. War schade, denn die Geschichte wäre meines gewesen.

    Lg Petra

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    1. vllt versuchst du es einfach noch einmal. das buch ist inhaltlich einfach interessant, wenn man sich auf die tochter konzentriert…. als so schlimm habe ich den stil übrigens selbst nicht empfunden, aber das ist ja immer eine rein persönliche angelegenheit….

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  2. Ich muss mich hier Kai anschließen. Im Übrigen finde ich es bezeichnend, dass hier anscheinend eine ungeliebte, aber stets gehorsame Tochter als Erfüllungsgehilfin ausgesucht wird, aber warum das bezeichnend ist, ist eventuell für andere schwer verständlich.

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    1. liebe trippmadam, auch dir herzlichen dank für deinen kommentar, ich habe bei kai etwas ausführlicher geantwortet. „erfüllungsgehilfin“, das trifft es wohl. gnädig, wenn sie gehorcht, unwirsch, wenn nicht. ein emotionales abhängigkeitsverhältnis, aus dem sich die zweite tochter wohl ein wenig herausgenommen hatte…. vllt ist es das, was du mit „bezeichnend“ meinst….
      lg
      fs

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  3. Lieber Flattersatz,
    danke für diese wirklich sehr detailreiche und informative Besprechung. Habe schon mehrmals vor dem Buch gestanden und überlegt es zu kaufen – aber nach Deiner Besprechung werde ich wohl davon Abstand nehmen. Ich habe den Eindruck, dass außer dem selbstbestimmten Tod, den ich tatsächlich bei entsprechendem Umgang damit (ich habe z.B. kein Verständnis für Menschen, die sich vor den Zug schmeißen, das halte ich für asozial) in diesem Bericht ganz andere Probleme besprochen werden. Und ich habe ehrlich gesagt keine große Lust, dabei ‚zuzusehen‘, wie ein menschliches Arschloch seine Tochter misshandelt und missbraucht,. um ans Ziel zu kommen. Deshalb vor allem Dir mein Respekt und Dank, dass Du die Lektüre durchgehalten und uns Lesern so plastisch gemacht hast.
    Liebe Grüße, Kai

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    1. nun, lieber kai, erst einmal herzlichen dank für deinen kommentar.

      von „durchhalten“ will ich aber gar nicht reden, das buch ist ja in seiner art sehr interessant und auch lehrreich. es schlägt eben vom inhalt her völlig aus der art dessen, was man üblicherweise in solchen erfahrungsberichten lesen kann: weniger der sterbende ist interessant, sondern hier ist es das schicksal der tochter, das im mittelpunkt steht. und das ist gut so, denn es zeigt, welche eine verheerende wirkung ein suizid hat, insbesondere wenn man den grund nicht wirklich nachvollziehen kann und dann auch noch aufgefordert wird, ihn zu organisieren. die besondere konstellation zwischen tochter und vater – wie ich sie aus dem text herausgelesen habe – kommt in diesem fall noch dazu. damit wirft das buch ganz andere fragen auf als andere texte dieser art….. das ist schon sehr interessant zu lesen!

      liebe grüße
      fs

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  4. Das liest sich bereits bei der Besprechung verstörend. Dabei scheint nicht der Todeswunsch des Vaters das Übel , sondern die Art wie er damit umgeht. Ich habe mir das Buch bestellt. weil diese Besprechung mich dieses Buch einfach lesen lassen muss. LG Xeniana

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    1. .. liebe xenania, ich habe dich doch schon mit bettinger vom fasten abgehalten, oder? das wird ja langsam zur gewohnheit *lol*

      ich weiß nicht, ob andere leser das auch so sehen wie ich, bis jetzt bin ich auf diese gedanken, dir mir gekommen sind, noch nicht gestoßen. aber ich hatte wirklich dieses irritierende gefühl: „was ist denn da abgegangen? das kann doch so nicht alles sein??“. Bin gespannt, was du dazu sagst!

      liebe grüße und einen schönen sonntag noch!

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