Maarten t´Hart: Gott fährt Fahrrad

Maarten t´Harts Buch „Gott fährt Fahrrad“ ist ein sehr persönliches Werk. In ihm erzählt der niederländische Autor von den letzten Lebensmonaten seines Vater Pau, die besonders für den Sohn eine sehr schwere Zeit waren, da dieser die ganze Zeit mit einem Geheimnis leben musste.

Pau t´Hart leidet seit Jahren unter Magenbeschwerden, warme Milch und Rennie gehören einfach zu ihm. Dann, 1973, Pau ist gerade mal 57 Jahre alt, sein Sohn 29 Jahre, sind die Schmerzen so groß, daß er ins Krankenhaus muss. Dort wird er operiert, bekommt einige Blutransfusionen und wird wieder nach Hause entlassen. Die Diagnose wird dem Sohn vom Hausarzt eröffnet: ein inoperables, infaustes Pankreaskopfkarzinom bedeutet den sicheren Tod des Vaters, im Krankenhaus wurde (heute würde man sagen, palliativ) ein neuer Magenausgang gelegt, die Bluttransfusionen waren wegen einer geplatzten Ader notwendig, die durch die Krebswucherungen geschädigt war. Arzt und Sohn kommen überein, die Diagnose für sich zu behalten, um dem Vater in seinen letzten Monaten ein sorgenfreies Leben zu ermöglichen.

Und tatsächlich erholt sich der Vater gut, ist nur misstrauisch, weil er so gar keine Nachwirkungen von der Operation hat. Er fängt wieder an, auf dem Friedhof als Grabmacher zu arbeiten, während der Sohn mit seinem Geheimnis kaum umgehen kann und an den Rand einer Depression gerät. Wut, Zorn, Angst, Hass, Verzweiflung, Leere sind Gefühle, die er hat. Erst eine Urlaubsreise in die Schweizer Berge beruhigt ihn ein wenig, läßt die Wut verrauchen, eine Wut, in der er einmal sogar einen altem Mann absichtlich mit dem Fahrrad umgefahren hat, nur weil diese alte Mensch lebt während sein Vater jung sterben muss…

Der Vater, dies sei verraten, stirbt, damit schließen die Gedanken des Buches. Er sollte aber nie von seiner Krebserkrankung erfahren, ein schwaches Herz, nicht der Tumor, war seine Todesursache. So war sein Tod recht schnell und auch ohne allzu große Qual, der bei weiterem schlimmer Tod durch den quälenden Krebs ist ihm erspart geblieben.

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Das Buch folgt im wesentlichen dem Verlauf der Zeit zwischen Diagnose und Tod des Vaters. Erzählt wird aus der Ich-Perspektive, der Autor läßt seinen Gedanken und Erinnerungen an seinen Vater viel Platz. Das Verhältnis der beiden mutet dem Leser seltsam an, an einer Stelle schreibt der Autor diesen verwirrenden Satz: „Man liebt niemanden, weil er nett ist.“ Und richtig nett war Pau nicht zu seinem Sohn, er hat ihn täglich getreten und geschlagen, mehrfach wird das erzählt, auch von Pau selbst, der darüber durchaus erschrocken ist, wollte er doch seinem Sohn solches, was ihm als Kind widerfahren ist (als er als 13jähriger das Haus verliess, rief ihm die Mutter etwas nach wie: „Ein Fresser weniger!“), nicht antun. Aber er tat es. Und doch liebte der Sohn ihn, liebte ihn abgöttisch…

Der Vater war ein grober Klotz, man kann es nicht anders sagen. Drückte Unbekannten bei der Begrüßung die Hand so fest, daß sie schrien vor Schmerz, vertrieb Besucher mit heraushängendem Gebiss vom Friedhof, wenn er sie dort nicht sehen wollte, nahm kein Blatt vor den Mund. Man kann es auch als eine Art von Humor bezeichnen, t´Hart schreibt später, sein Vater hätte in seinem Humor die Wut versteckt, die Wut auf das Leben. Am Ende seines Lebens konnte er die Wut dann nicht mehr verstecken, dann trat sie zu offen Tage.

Die t´Harts waren ein streng calvinistisches Haus, Pau ein bibelfester Mensch. Daß sein Sohn von diesem Weg abgewichen ist und eine Ungläubige geheiratet hat, traf ihn hart. „Henoch“ nennt der Autor das Kapitel, das sicherlich ein Schlüsselkapitel des Buches ist. Von dieser biblischen Gestalt heißt es: „Henoch war seinen Weg mit Gott gegangen, dann war er nicht mehr da; denn Gott hatte ihn aufgenommen“. Über diesen Satz sinnert der Junge, nachdem er seine erste Beerdigung miterlebt hatte und er unbedingt zu seinem Vater will, der weit außerhalb damals noch als Gärtner arbeitete. Nur dieser scheint ihm wieder Sicherheit geben zu können. Die Mutter schickt ihn mit Warnungen auf den Weg: mit keinem Fremden mitgehen, keine Süüßigkeiten von Fremden annehmen…. Seltsame Gedankengänge des Kindes, an die sich der Autor noch erinnert. Ein Mann auf einem Fahrrad wollte ihn mitnehmen, die Mutter hatte es jedoch verboten… aber da Gott überall war, sinnierte der Junge, konnte er doch auch in der Gestalt des Radfahrers sein, der ihn mitnehmen wollte, und so hätte er letztlich Gottes Einladung ausgeschlagen… und außerdem steht geschrieben, daß man Gott mehr lieben solle als seinen Vater, aber er liebte seinen Vater mehr als Gott, das wurde ihm klar auf diesem Weg, den er ging…. Es ist das Bild eines gestrengen Gottes, eines Richtergottes, das hier auftaucht, eines Gottes der Ge- und Verbote, deren Einhaltung überwacht wird.. und wehe….

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Über das ganze Buch herrscht die im Grunde unsägliche Situation, daß der Sohn als einziger von der Erkrankung des Vaters weiß, er hat bis zum Schluss niemanden in dieses Geheimnis eingeweiht. In einem gewissen Sinne ist es also der Sohn, der die tödliche Krankheit in sich trägt und ertragen muss…. Erst nach dem Tod des Vater verriet er es der Mutter, vielleicht als Trost, da der Herztod doch sehr viel gnädiger war als der des Krebses… Würde man sich die Mühe machen, z.B. dieses Konstrukt der verschiedenen Phasen einer Trauer (vllt sogar eines Sterbens) nach Kübler-Ross oder auch anderen über das Buch zu legen, könnte man vieles finden: das Nicht-Wahrnehmen-Wollen, die Wut, den Zorn, der Verhandlungen, die depressiven Phasen, die ohne Trost sind…. auch die Angst, denn – so erinnert sich der Autor – immer stand der Vater zwischen ihm und dem Tod und jetzt sollte der Vater sterben und so stand er schutzlos dem Tod ausgeliefert….

Das Krankenhaus… dazu muss ich auch was schreiben, denn das hätte sich Herr F.K. aus P. nicht absurder ausdenken können…. Die Schilderung des Versuches, nach der Operation eine telefonische Auskunft, ob und wie und überhaupt, zu bekommen – was letztendlich nicht gelang -, die Strenge, mit der die Besuchszeiten einzuhalten waren (nur wenn außerhalb der Besuchszeiten gestorben wurde, gab es Ausnahmen…). Man muss sich das vorstellen, eine Diagnose, eine Auskunft, wie die Operation verlaufen ist, was überhaupt gemacht worden ist: erst zehn (!) Tage noch dem Eingriff, der Vater war schon wieder zu Hause…. Unfassbar…. aber 1973 war das wohl so…

„Gott fährt Fahrrad“: um ihn, den jungen Maarten, wie weiland Henoch, zu sich zu nehmen? Oder, dies ein Spaß, eine Freude, eine so gute Erinnerung, bezieht es sich auf den Vater, der ihn, den Sohn, auf seinem Rad mitgenommen hat? Im Original heißt das Buch „De Annspreekers“ (Leichenbitter), bezieht sich also rein auf den Beruf des Vaters. Nimmt der Autor Einfluss auf die Titel der Lizenzausgaben? Wenn nein, ist deren Interpretation ja im Grunde unnötig, da sie nicht den Gedanken des Autoren entstammen…

Das Buch dreht sich in vielen Aspekten um Sterben und Tod, um Friedhof und Begräbnis, um Trauer und um ein problematisches Vater/Sohn-Verhältnis. Ein Vater, der den Sohn tritt und schlägt und trotzdem von diesem abgöttisch geliebt wird (ein privates Stockholm-Syndrom?, war ein meiner Gedanken dazu….). Es sind die Erinnerungen an Ereignisse, Vorkommnisse, Gefühle und Erlebnisse eines Zusammenlebens, das von diesem oft groben, aber auch liebevollen, bibelfesten Geschichtenerzähler in einem strengen und prüden Umfeld geprägt wurde. Manche der Schilderungen sind langatmig, als ob sie der Autor mehr für sich als für den Leser schreibt, nicht ganz unwahrscheinlich, daß dies eins der Motive für das Buch ist, das sechs Jahre nach dem Tod des Vater publiziert wurde.

t´Hart ist ausgebildeter Biologe, hat auch als Dozent gearbeitet. Man merkt es seinen Beschreibungen, seinem Stil an, eine Amsel zum Beispiel ist nicht einfach nur zu hören, sondern sie stößt ihren Alarmruf aus, die Tiere, die er erwähnt, benennt er genauso wie die Pflanzen nach ihrer Art, diese Genauigkeit, die er dort walten läßt, erscheint manchmal schon ein wenig (liebevoll) übertrieben.

So kann man „Gott fährt Fahrrad“ als gut und detailliert – manchmal etwas langatmig – geschriebene Aufarbeitung einer Kindheit und Jugend ansehen, die letztlich mit dem Sterben des Vaters und dieser langen, vorgezogenen und einsamen Trauerphase einen Schlusspunkt erfährt. Und man erhält durch die Erinnerungen t´Harts einen Eindruck und Einblick in die Strenge eines calvinistischen Lebens.

Das Buch ist sicherlich kein Muss, wenn man aber interessiert ist an dieser besonderen Trauerkonstellation ist die Lektüre auf jeden Fall lohnend, denn Maarten scheint vom Vater auf jeden Fall die Begabung zum Erzählen von Geschichten geerbt zu haben….

weitere Buchvorstellung von t´Hart hier im Blog:
Der Schneeflockenbaum und
Das Wüten der ganzen Welt

… und noch ein Hinweis: eine kapitelweises Inhaltbeschreibung findet sich ebenso wie eine Ausdeutung des Buches in der Wiki: http://de.wikipedia.org/wiki/Gott_fährt_Fahrrad

Maarten t´Hart
Gott fährt Fahrrad
oder: Die wunderliche Welt meines Vaters
aus dem Niederländischen übersetzt von Marianne Holberg
Originalausgabe: Amsterdam, 1979
diese Ausgabe: Piper Verlag, TB, ca 308 S., 2004

2 Kommentare zu „Maarten t´Hart: Gott fährt Fahrrad

  1. Ich bin ja an sich kein Fan von Maarten t´Hart. Aber dieses Buch wurde in meinem Lesekreis gewählt, somit auch gelesen ;-) und ich habe es nicht bereut.
    Eignet sich auch hervorragend für Diskussionen!

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    1. ja, liebe daniela, das sich diese erinnerungen gut für eine diskussion eigen, glaube ich gerne! vor allem der vater weist viele kanten und ecken auf, an denen man sich reiben kann und die ganze konstellation mit der geheimniskrämerei ist natürlich hanebüchern…

      liebe grüße
      fs

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