Emma Becker: Monsieur

Isabelle („Ellie“) Becker, in der Selbstwahrnehmung eine kleine, pummelige, den Babyspeck abwerfende Blondine mit Hohlkreuz und kleinen Brüsten, in einer Blumenhandlung arbeitend, um im Studium (das momentan – wir sind im Jahre 2009 – durch einen Studentenstreik unterbrochen ist) ein wenig Geld zu verdienen, intellektuell eine manische Leserin von Erotika und Pornographika, erlebt ein Verhältnis mit einem älteren Mann. Sie ist zwanzig, der Mann, ein bekannter Pariser Chirurg, fünfundvierzig, verheiratet, fünf Kinder. Es ist ein Verhältnis, das von Anfang an dominiert ist vom erfahrenen Egomanen….

aber der Reihe nach…

Becker stimmt uns auf das nachfolgende Geschehen ein, indem sie ihren Roman [1] mit einer kurzen Schilderung ihrer Vorliebe für erotische Literatur beginnen läßt. Vor allem Lolita, dieses Meisterwerk Nabokovs, spricht sie an, auch sie, die Zwanzigjährige, bevorzugt ältere Männer, nicht die gleichaltrigen. Anyway – sie läuft mit einem Buch Calafertes [2] durch die Wohnung, ihre Mutter bemerkt dazu (leicht genervt), sie würde nur noch einen Menschen kennen, der ähnlich besessen sei von solchen Machwerken, nämlich … den langjährigen Kollege ihres Bruders Phillip.

Es dauert einige Zeit, bis diese Bemerkung der Mutter in Ellie herangereift ist… Ellie schaut im Facebook-Profil von Monsieur (wie er nachfolgend genannt wird) nach, schickt ihm eine Freundschaftsanfrage und in ihrem Begleittext weist sie auf die gleichen Vorlieben für erotische Literatur hin… Monsieur antwortet, und Becker läßt derart ihren Roman im Hauptteil als Brief- bzw. als Mailroman [3] beginnen, ein Hin und Her von Nachrichten, die sich um ein Thema drehen… Man schaukelt sich gegenseitig hoch, die Mails werden anzüglicher und persönlicher, schließlich verabreden die beiden ein Treffen in einem kleinen Zimmer eines verschwiegenen Hotels… die Tatsache, daß Ellie den Geschmack seines Spermas kennenlernt bevor sie überhaupt das Gesicht es Mannes sieht, beschreibt die Art der sich nun entwickelnden Beziehung schon recht gut…

Monsieur ist dominant, arrogant, von sich überzeugt. Er kann roh sein, setzt seinen Willen durch, obgleich man zugute halten muss, daß der Widerstand Ellies gering ist, sie ist hin und her gerissen. Zärtlichkeit ist die Sache von Monsieur nicht.. Ellie rutscht immer tiefer in die Abhängigkeit von der Zuwendung Monsieurs hinein…  es entwickelt sich ein für ein außereheliches Beziehung typisches Verhalten: Monsieur ist immer knapp mit der Zeit, die Arbeit, die Familie… Ein guter Teil des Kontaktes läuft weiter über anzügliche Mails und Telefonate zum „falschen“ Zeitpunkt (das ist Teil des aufregenden Spiels), dann nämlich, wenn Ellie auf seine Anzüglichkeiten nicht reagieren kann, weil sie z.B. zu Hause bei ihrer Familie sitzt..

Es ist nicht so, als ob Ellie alles gefallen würde. Natürlich nicht in der letzten Konsequenz, aber in der Tendenz ist es so, als ob die geliebten Werke eines Bataille [6] oder de Sade sich in der Realität zeigen, und es ist ein Unterschied zwischen dem Lesen dieser Werke und der Praxis, nämlich selbst sodomiert zu werden… Sie versteht z.B. diese Vorliebe Monsieurs für ihren Hintern nicht, fragt sich, warum er sie erst „da“ küsst, seine Zunge spüren läßt und nicht dort, wo sie so feucht ist und immer feuchter wird…

Es ist ein obessives Verhältnis, Ellie gibt ihre Selbstsicherheit auf und unterwirft sich den Gelüsten ihres Galans. Ein Geschenk wie das Buch „Le Con d´Irene“ [4] bringt sie in Verzückung (Monsieur kann ihr diese Buch jetzt gut schenken, er hat es sozusagen gegen „Le Con d`Ellie“ eingetauscht)… trotzdem gibt es Grenzen für die junge Frau, zum gewünschten Masturbieren vor ihm kann sie sich nicht überwinden, ein letzter Rest Scham. An einer Stelle zieht Becker ihr kurzes, prägnanten Resumee der unterschiedlichen Sexwünsche von Mann und Frau: während für Frauen Kriterien wie „schmutzig“ und „nicht schmutzig“ wichtig wären, gehen Männer nur auf „geilt auf“ oder auch nicht….

Die Affäre endet von einer Sekunde auf die andere. Ellie passiert ein Malheur (funktioniert das Wortspiel Cul-heur im französischen? Dann könnte man das Geschehen nämlich als solches bezeichnen…). Ist dies der Grund, daß Monsieur nicht mehr anruft, nicht mehr erreichbar ist, nicht mehr antwortet….?

Der Mittelteil des Romans beschäftigt sich im Grunde ausschließlich mit dieser Frage: Warum? Es ist der schmerzhafte Weg einer der schwierigsten Verlusterfahrungen, den Ellie jetzt gehen muss: der Verlust eines geliebten Menschen (unabhängig von der Frage, ob es Liebe ist, was Ellie an diesen Mann bindet), zu dem man sich in der Öffentlichkeit nicht bekennen darf, der also klandestin bleiben muss, den sie nach außen nicht zeigen darf, wo sie lachen und fröhlich sein muss, obwohl ihr Herz zerreißt… nur ganz wenige Freundinnen wissen von der Affäre, ihnen geht es wie dem Leser [7], das ewige Wiederholen immer gleicher, frustrierender Situationen, das Wiederkauen der immer gleichen Fragen, auf die es keine Antwort gibt nervt, wird ob des offensichtlichen Auf-der-Stelle-tretens frustrierend und entlädt sich bei den Freundinnen in „Standpauken“, die – natürlich – nichts fruchten.

Ellie schreibt ihm, versucht, ihn anzurufen.. Déjà-vu Erlebnisse quälen sie, was erinnert sie nicht alles an ihn… und über allem die Frage: Warum? Sie kann es nicht verstehen… Sie schläft mit anderen ihrer älteren Liebhaber, wahllos, masslos, sie droht, abzustürzen, läßt sich gehen, geht mit Zufallsbekanntschaften vögeln… Das Buch.. Monsieur hat ihr seinerzeit geraten, ein Buch zu schreiben über ihr Verhältnis und das macht Ellie jetzt, sie formuliert ihre Gedanken, ihre Fragen, ihre Zweifel.. der Hinweis auf das Buch, das ein Buch über Monsieur ist,  ist lange Zeit der einzige Lockruf, mit dem sie eine Reaktion des selbstverliebten Egomanen hervorzaubern kann …. [5]

Nach Monaten treffen sich die beiden dann doch wieder, sie gehen wieder in das Hotelzimmer. Das „Warum?“ kann Monsieur nicht beantworten, nicht so, daß Ellie es versteht… zu wenig Zeit, zu gefährlich geworden.. Ausflüchte?.. dabei wollte Ellie doch nichts von ihm, durch durchgevögelt werden, dienstags morgens, mehr nicht…. sie schlafen miteinander, in der typischen Art Monsieurs, die Ellie, auch wenn sie seine Vorliebe nicht nachvollziehen kann, an den Rand des Wahnsinns bringt, Monsieur ist gut im Bett… es sollte das letzte Mal sein, Ellie fühlt, daß sie Schluss machen muss, da Monsieur ihr das Schlussmachen verweigert. Es muss ein Ende haben, sonst zerstört diese Liebe sie.

*****************

„Monsieur“ ist ein schonungloses Buch, es schildert in großer Offenheit eine zerstörerische Beziehung (ich sträube mich ein wenig gegen den Begriff „Liebe“), die sich – intellektuell und körperlich – nur auf Sex gründet. Die beiden, die junge Frau und der ältere Mann leben die Art von Sexualität, die sie auch lesen, eine Sexualität, die Lust aus Schmerz gewinnt, aus Dominanz und Submissivität, aus „Schmutz“ und Grenzüberschreitung. In Ellie herrscht die Ambilanz der Gefühle, sie fühlt sich von der Rohheit des Mannes abgestoßen, von seiner Vorliebe für ihren Hintern, von seiner Hand an ihrem Hals, seinem Wunsch, sie masturbieren zu sehen und gleichzeitig reagiert ihr Körper auf all dies, als sei er ein selbstständiges Wesen mit eigenem Willen, als würde ihr vor Nässe schmatzende Geschlecht nach ihm rufen…

Es ist ein deutlich formulierter Roman, es ist Becker Sache nicht, drum herum zu reden, auch und gerade nicht „darum“. Aber dies geschieht mit großer Souveränität, an keiner Stelle wirken die Szenen aufgesetzt oder konstruiert, auch nicht peinlich. Sie sind zwangsläufig, gehören einfach in diese Geschichte hinein, da sie deren „Seele“ sind. Ohne diese Szenen, auch deren Schilderung, hätte dieses Stück Verarbeitungsliteratur keinen Sinn.

Ellie ist nicht zu helfen, es ist quälend, sie in ihrer traumatisierten Welt zu erleben. Traumatisiert, da es keine (und das hat nichts mit dem Altersunterschied zu tun) gesunde Beziehung zwischen den beiden ist, eine Beziehung, die sich nur auf Sex gründet, die einseitig scheint, und für die die junge Frau bereit ist, fast alles aufzugeben, vor allem sich selbst. Im letzten Absatz des Buches nennt Becker es den „Prozess des Entliebens“, den sie jetzt durchleiden muss, da sie sich aus einer Art Selbsterhaltungstrieb heraus von Monsieur getrennt hat. Hoffen wir, daß sie irgendwann auch merkt, daß dies keine „Entlieben“ ist, da ihm keine Liebe zugrunde liegt, sondern .. Sucht? Abhängigkeit in jedem Fall, Hörigkeit vielleicht… die Tatsache, daß sie ihr Verhältnis mit einem Splitter vergleicht, den sie sich herausziehen muss, gibt Hoffnung, denn ein Splitter verletzt, hat verletzt und was einen verletzt, kann nicht gut sein.

Durch Zufall habe ich Stefan Bollmanns „Warum Lesen glücklich macht“ zur gleichen Zeit gelesen wie „Monsieur“ und natürlich habe ich unwillkürlich die Argumentation Bollmanns auf Ellies Geschichte übertragen. Ihre „Bücher der Heroen“ waren „Die Geschichte der O“, „Justine….“, „Madame Edwarda“, „Der Tote““ oder „Die Geschichte des Auges“; „Le Mécanique des femmes“ (sie bezeichnet diesen Roman als ihre „Bibel“).. und natürlich „Lolita“ [8], Bücher also, die sich zum großen Teil mit Unterwerfung befassen, mit der „dunklen Seite der Sexualität“… Der Küchenpsychologe in mir sieht da natürlich eine mögliche Ursache für das Geschehen, aber wahrscheinlich ist die Fixierung Ellies auf diese Art von Literatur ja auch nur Auswuchs anderer Ursachen..

Zusammenfassend kann ich festhalten, daß „Monsieur“ ein sehr interessantes, gut, teilweise fesselnd geschriebenes Stück „Verarbeitungsliteratur“ ist, das mich auch mit seinen erotischen Passagen überzeugt hat.

Links und Anmerkungen:

[1] Ich bezeichne das Buch im folgenden als Roman, obwohl es im Grunde eine Art Autobiographie ist: „I changed various details in Monsieur, important information like names, features, the number of children Monsieur has- anything that could get him into trouble. This is actually the only reason why the book isn’t completely autobiographical. “  [Quelle: http://www.femalefirst.co.uk/books/Monsieur-258861.html ]. Im Hinterkopf hat man bzgl. dieser Aussage natürlich immer noch die Behauptung Roches seinerzeit, siebzig Prozent der Feuchtgebiete seien eigene Erlebnisse… was sie ja später relativierte und zurücknahm
[2] Louis Calaferte, ein italienischer Schriftsteller (1928 – 1994), der aber kaum ins Deutsche übersetzt worden ist. Das einzige Buch, das ich von ihm gefunden habe, ist „No. Man´s Land“ bei Suhrkamp. Wiki-Beitrag über Calaferte: http://fr.wikipedia.org/wiki/Louis_Calaferte
[3] ein bekanntes Beispiel für solch einen Mailroman ist Glattauer mit seinem „Gut gegen Nordwind“  (gibt es den Begriff eigentlich). Ist es Zufall, daß seine schreibende Heldin Emmi heißt, und sich die Autorin den Namen Emma gegeben hat? Ob Emma Becker der richtige Namen der Autorin ist oder ein Pseudonym ist mir nicht bekannt….
[4] Spiegel-Beitrag über die deutsche Ausgabe: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-45522299.html
[5] .. der sie dann sogar an einen Verleger für ihr Manuskript vermittelte [Quelle: http://www.zeit.de/2013/27/emma-becker-sex-roman-monsieur
[6] vlg zum Beispiel „Das obszöne Werk“: https://radiergummi.wordpress.com/2012/03/12/georges-bataille-das-obszone-werk/
[7] diese Feststellung des „Nervens“ ist keine Kritik am Buch! Es ist nur ein typisches Merkmal solcher Trauervorgänge, das gebetsmühlenartige Wiederholen von Fragen, von Situationen, von Reaktionen, durch die man als Aussenstehender irgendwann genervt ist, sofern man nicht gelernt hat, damit umzugehen…..
[8] Die Geschichte der O: Wiki-Artikel zum Buch: http://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_O 
Justine: Wiki-Artikel zum Buch von de Sade: http://de.wikipedia.org/wiki/Juliette_(de_Sade)
Madame EdwardaDer Tote oder Die Geschichte des Auges vgl. Besprechung hier im blog
Le Mécanique des femmes: Roman von Louis Calaferte, Rezension z.B. hier: http://contesdefaits.blogspot.de/2010/09/la-mecanique-des-femmes-louis-calaferte.html bzw. Kurzinhalt der Verfilmung: http://worldscinema.org/2012/10/jerome-de-missolz-la-mecanique-des-femmes-aka-the-mechanics-of-women-2000/
Lolita, Wiki-Artikel zum Buch von Nabokov: http://de.wikipedia.org/wiki/Lolita_(Roman)

mehr Bücher „erotische Literatur“ sind in meinem Themenblog zu finden: http://erotischebuecher.wordpress.com/

Ellie Becker
Monsieur
Aus dem Französischen übersetzt von Antoinette Gittinger
Originalausgabe: Paris, 2011
diese Ausgabe: Piper, TB, ca. 450 S., 2013

6 Kommentare zu „Emma Becker: Monsieur

  1. Mit erotischer Literatur kenne ich mich gar nicht aus, und dieser ewige Hype um Shades of Grey & Co. nervt mich auch eher, als dass er mich zum Lesen animiert. Aber nach deiner Rezension bin ich nun doch neugierig. Ich seh mir mal deinen anderen Blog an.

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    1. liebe wächterin, herzlichen dank für deinen kommentar.
      die schatten kenne ich auch nicht, die hype hat mich davon abgehalten und auch das anlesen in der buchhandlung. bei erotischer literatur muss man etwas suchen, es gibt nur wenige perlen, aber eine ganze menge austern.. sozusagen. aber es gibt sie, diese bücher, romane, die sowohl literatur als auch erotisch sind….

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        1. liebe wächterin, damit stellst du mir natürlich eine schwierige frage, denn ohne jemanden zu kennen und zu wissen, was gefällt und was nicht, ist eine empfehlung schon ein problem .. ;.). „Monsieur“ hat jedenfalls den vorteil, daß er aktuell ist und leicht zu bekommen… in den „erotischen bücher“ (autorenverzeichnis) findest du almudena grandes oder Mayra Montero, Mario Vargas Llosa ist natürlich auch immer empfehlenswert. ansonsten kann ich dir nur raten, auszuprobieren, was dir zusagt… fedderke noch mit ihrer A-Geschichte, aber das geht dann schon in den s/m-bereich… phoebe müller ebenso…
          lg
          fs

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          1. Stimmt, die Frage war nicht einfach;-) Ich probiere mal den „Monsieur“, deine Rezension hatte mich schließlich erst auf den Geschmack gebracht. Ich berichte dann;-)
            VG

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          2. na, da bin ich jetzt ehrlich gespannt! aber ich denke, meine buchvorstellung ist ausführlich genug, so daß du weißt, was dich in etwa erwartet. viel spaß jedenfalls! lg :-)

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