Phoebe Müller: Gejagte

Sie ist gutsituiert, trotzdem ist es ihr schal geworden, das Leben, das sie führt. Eingebunden in einen Bekanntenkreis, der sich ohne materielle Sorgen zwischen Weinverkostung, Designermöbeln und Paarproblemen bewegt, ist sie mit Rich liiert, einem eloquenten, gut aussehenden, fesselnden Mann. Man wohnt in einem angenehmen Viertel mit entsprechender Lebensqualität, trifft sich in den passenden Lokalitäten, besucht sich auch gegenseitig, begegnet sich auf Veranstaltungen, gleiche Hobbys verbinden, man möbliert das Heim nicht mehr vom schwedischen Massenhersteller inspiriert, sondern orientiert sich mehr am Katalog der Möblisten, die gerade „in“ sind… kurz, der Schein ist wichtig und überdeckt das Sein.

Unsere Heldin ist nicht hineingeboren in diesen Kreis. Eher der Melancholie zuneigend und still muss sie lernen, sich in diesem Zirkel zwischen Angesagtem und „Geht gar nicht!“ zu bewegen, das richtige Vokubular bei der Degustation zu verwenden und die Künstler zu benennen, die im Moment den Geschmack bestimmen. Sie ist von Rich in diesen Kreis eingeführt worden, die wenigen Versuche, ihrerseits alte Bekannte vorzustellen, endeten mehr in gegenseitiger Irritation, sie unterließ sie daraufhin.

Rich, wie gesagt, ist ein fesselnder Mann und sie geniesst es, sich von ihm fesseln zu lassen, sich fallen zu lassen in die Bewegungslosigkeit, das Ausgeliefertsein. Es macht ihr nichts aus, daß andere zuschauen, daß sie zum Schauobjekt der Kunstfertigkeit ihres Freundes wird. Aber irgendwann wird auch dies schal und abgenutzt und sie fängt an, nachts neben ihm zu liegen und nicht zu wissen, was ihr fehlt an diesem Leben, mit diesem Mann.

Eines Tages trifft sie „Sie“, eine medusenhäuptige, herbe Frau. Sie wissen es beide sofort, im gleichen Augenblick… Es kümmert Rich nicht, wenn sie ihm sagt, daß sie übers Wochenende zu einer alten Freundin fährt, daß sie dort übernachten wird, weil sie alkoholisiert nicht mehr zurückfahren will… wurde sie von Rich gefesselt, liefert sie sich hier selbst aus, findet sie ihre Befriedigung darin, Spielzeug zu sein für Sie…

Cut. Schluss. Reset.

Von einem Tag auf den anderen koppelt sie sich ab von allem, bricht sämtliche Verbindungen ab. Liest sie auf der Arbeit in einem kleinen Verlag tagsüber erotische Romane Korrektur, verliert sie sich nachts im anderen Extrem: immer tiefer gerät sie in den Sog einer „Ekellust“, die sie zuhauf auf den entsprechenden Internetseiten findet. Um das Abartige dessen wissend, an was sie sich aufgeilt, befriedigt sie ihren Körper nächtelang damit, ihre unbenannte Sehnsucht dagegen nach dem, was ihr fehlt, bleibt ihr…

Eines Nachts poltert es gegen ihre Tür, sie öffnet angstvoll, sieht einem vermummten Mann ins .. nein, nicht ins Gesicht, in eine Maske, einen Helm: ein groß gewachsener Polizist in voller Montur steht vor ihr: eine Razzia findet im Haus statt…. am nächsten Tag kommt er wieder, zur Zeugenbefragung. Nach dem Öffnen der Tür geht er einfach in die Wohnung, sagt nichts, legt sein Koppel ab mit allem was dran hängt, greift sie und nimmt sie. Grob und heftig, mehrmals. Es ist nicht das „Brennender Docht trifft auf Wachsdöschen“-Geschwurbel der erotischen Machwerke, die sie tagsüber lesen muss, hier wird ihr einfach ohne viel Federlesen ein harter Knüppel zwischen die Beine gerammt. Mehrfach. Und das kommt gut so.

„Mein Alltag oder was davon übrig war, schien eine Aneinanderreihung von Seltsamkeiten zu sein. Manchmal stand ich mit der Zahnbürste in der Küche und fragte mich, was ich dort überhaupt wollte. … Die Nachbarn sahen mich seltsam an, wenn sie mir im Hausflur begegneten. …“

Er besucht sie, wie er will, wie es ihm in seinen Dienstplan passt und sie steht ihm zur Verfügung. Immer tiefer gerät sie in den Strudel dieser Beziehung, der sie aus derart ihren Lebensgewohnheiten wirft, daß sie den Bezug zum „normalen“ Leben zu verlieren scheint. Sie liebt den Körper ihres persönlichen Sondereinsatzkommandos, seine Art, sie zu nehmen, sie seinem Willen unterzuordnen und ihr dadurch Sicherheit und Lust zu bereiten. Es wird nicht allzu viel geredet, das ist nicht das, was sie suchen. Ihre Spiele gehen immer weiter, sie fahren an die nahen Seen, baden dort, treiben es im Freien, ihre aufgescheuerten Knie sind voller Sand, ihr Mund auch, er lädt notgeile Spanner ein, zuzuschauen, es macht ihr nichts aus…

Müller läßt das Ende offen. Wir verlassen die Protagonisten dieses Romans an einem beginnenden Wochenende, das sie – so ist zu vermuten – alleine verleben wird. Allein, aber zufrieden. Einfach weiter atmen, das ist ihr Geheimnis. Ob dies ausreicht, ihr Leben zu leben, bleibt die Frage.

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Müllers „Gejagte“ wird als erotischer Roman vertrieben. Natürlich, Erotik und Sex spielen eine große Rolle in diesem Buch, es wäre jedoch ein Fehler zu glauben, darin erschöpfe sich der Inhalt: es ist beileibe kein „Einhandbuch“. Wenngleich, auch das ist einfach so, so manches Setting Müllers die eigene Fantasie durchaus anzuheizen versteht. Worüber Müller aber eigentlich schreibt, ist die Leere im Menschen, das Loch im Inneren, das auch und gerade materielle Sorglosigkeit nicht auszufüllen vermag. Denn genau das geschieht ihrer Protagonisten: sie hat alles und ist mit allem unzufrieden, weil sie darin ihre Mitte nicht findet.

Derart an Körper und Seele unbefriedigt kann sie sich zwar aus ihrem „alten“ Leben lösen, gerät aber in den Bann frei verfügbare Sexualität, wie sie das Internet bietet. Sie erlebt das Phänomen, daß sie beim Anblick der geölten, makellosen (?) Körper und dem, was zwischen ihnen arrangiert wird, zwar Ekel empfindet, ihr eigener Körper aber reagiert und sie am Ende der Nacht, wenn sie mal wieder die Zeit vergessen hat, ausgelaugt und erschöpft ist. Dem Bann dieser pornographischen Exzesse (frei nach dem Motto: „Der Muskel wird so lang gedehnt, bis er reisst“) entkommt sie zwar durch die Bekanntschaft mit „ihm“, ob dies aber für sie eine wirkliche Erlösung ist, bleibt offen…

Müller verteilt so manchen Seitenhieb. Ihre Protagonistin hat sie als Lektorin in einem Verlag für erotische Literatur angesiedelt, dort amüsiert sie sich über die vielen verschwurbelten Texte, die in dieser Gattung existieren und durchaus ein Publikum haben. Sie selbst liebt eher die klare Sprache, die aber nie peinlich oder bemüht wirkt, die auch nie herabwürdigend ist. Es gibt auch einige Stellen, an denen einem ein spontanes Lachen entweicht: wenn sie zum Beispiel im SM-Club die Männlichkeit im vollem Ornat mit Schmerbauch und Peitschenset vor dem Büfe stehen, über Vor- und Nachteile der Riester-Rente diskutieren und nach mehr Spätzle rufen läßt….

Überhaupt die Männer.. sind sie wirklich so, empfinden Frauen sie als so triebgesteuert, wie es zwischen den Zeilen Müllers hindurch schimmert? Letztlich scheint sich alles nur um Sex zu drehen und wenn der mit der eigenen Frau nicht mehr hinhaut, setzt Mann sich eben vor den Rechner und onaniert zu den passend herausgesuchten Bildvorlagen…

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Als eigentlich einziger Kritikpunkt fällt mir der Titel ein, denn als „Gejagte“ kann ich die Protagonisten nicht sehen, sie ist eine „Getriebene“, eine von der eigenen Unruhe, der Suche nach dem, was sie sucht und braucht in die Haltlosigkeit getriebene. Aber wie dem auch sei, „Gejagte“ ist ein gelungener Roman, ein erotisches Buch, das man ohne Gewissensbisse empfehlen kann, verstörend zwar, aber hochinteressant, gut geschrieben mit dem gewissen „Kick“ und nicht ohne Humor und auch einem Schuss Kulturkritik. So häufig findet man diese Kombination nicht…

Phoebe Müller
Gejagte
Konkursbuchverlag, broschur, 218 S., 2012

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