Ruth Klüger: weiter leben

Ruth Klüger wurde 1931 als Susanne Klüger in Wien geboren. Aus der ersten Ehe ihrer Mutter hatte sie einen älteren, in Prag lebenden Halbbruder, Ruth Klüger selbst stammt aus deren zweiter Ehe mit einem wiederum aus kinderreicher, armer Familie kommenden jungen Mann, der studiert und sich als Frauenarzt in Wien niedergelassen hat. Es ging ihnen gut.

Doch die Zeiten änderten sich. Die Achtjährige, die angestrengt und Schlaf vortäuschend dem Getuschel der Erwachsenen lauscht, hört diese vom Tod reden. Von Buchenwald und von Hans, der zurückgekommen ist und schweigt über das, was dort passiert ist. Gefoltert hat man ihn und Folter ist etwas, was man im Leben nicht mehr hinter sich läßt.

Die Klügers sind eine jüdische Familie in Wien und in dieses Österreich strahlt das hitlersche Deutschland aus, wie es Werfel z.B. in seiner „Blaßblauen Frauenschrift“ beschrieben hat [3]. 1938 der Anschluss, viele jüdischen Männer, so wie Klüger es in ihrer sehr eigenen Art formuliert, lernen neue Berufe, auch die Welt des Kindes wird immer kleiner, enger. Bald werden die jüdischen Kinder in eigenen Schulen unterrichtet, da deren Zahl aber auch immer weiter abnimmt (die vermögenden Juden verlassen das Land, nachdem sie die Reichsfluchtsteuer aufgebracht haben, was wegen der Beschlagnahmung jüdischen Eigentums nicht immer einfach war, selbst wenn Vermögen prinzipiell vorhanden war). Das Kind erlebt die immer zunehmender werdenen Einschränkungen und Verbote als starke Einengung des Lebensraumes und des sozialen Umfelds, jüdisches Selbstbewusstsein entsteht, Sympathien für die zionistische Idee „Erez Israel“ und Susanne nennt sich selbst in Ruth um.

Dem Vater gelingt die Flucht nach Italien. Der Abschied von Frau und Kind ist unklar, die Erinnerung der beiden unterscheiden sich. Wahr ist wohl, daß Ruth im Pass des Vaters eingetragen war. Auch die jeweiligen Erinnerungen an den Menschen, den Mann, den Vater, gleichen sich nicht…. Es ist eine grausame Ironie des Schicksals, daß er, der dann von Italien aus nach Frankreich ging, von dort aus nach Auschwitz transportiert und wahrscheinlich sofort vergast wurde (es muss einer dieser hier [5] erwähnten Transporte aus Drancy gewesen sein…), während seine Frau und seine Tochter den Krieg und die Lager überlebten. Ruth braucht viele Jahre, um zu glauben, daß der Vater vergast worden ist.

Es ist schon wichtig, wie und wo einem etwas passiert, nicht nur, was einem passiert. Sogar der Tod. Besonders der, besonders die Tode; weil es ihrer so viele gibt, liegt viel daran, welchen Tod man stirbt.

1942 werden Mutter und Tochter nach Theresienstadt [6] gebracht. Die Verhältnisse (auch des Transports) sind entsetzlich, es herrschen großer Hunger, Durst und die Menschen sind aufeinander gepfercht. Die Lagerselbstverwaltung versucht, den Kindern in Kinderbaracken etwas bessere Verhältnisse zu bieten, teilweise findet illegaler Unterricht statt.

Im Mai 1944 werden die beiden aus Theresienstadt, in dem zwar auch sehr viele Menschen starben (aber das war nicht die „Aufgabe“ des Lagers), das aber im wesentlichen als Verteilungsstation und eine Art „Verschiebebahnhof“ in die Konzentrationslager diente, nach Auschwitz gebracht. Unsägliche Verhältnisse in den Waggons, Hunger, Durst, Gestank nach Menschen und deren Ausscheidungen…. im Lager angekommen, fragt die Mutter, ob sie beide nicht einfach in den Zaun gehen sollten. Ruth verneint, damit ist das Thema Suizid vergessen.

A3537

das „A“ steht nicht für Auschwitz, wie allgemein angenommen, sondern für eine hohe Häftlingsnummer, d.h. für einen Häftling, der relativ spät in das Lager deportiert wurde.

Ruth und ihre Mutter überleben, wobei für Ruth gar nicht mal der Hunger, sondern mehr noch der Durst die größere Qual ist. Die Willkür, das Ausgeliefertsein, das stundenlange Stehen bei den Appellen, egal, wie das Wetter ist, die Schikanen, der über dem Lager wabernde Gestank, der den Schornsteinen der Krematorien entströmte….

Die gute Tat in Auschwitz: es gab sie für Ruth, die inzwischen 12 Jahre alt war. Frühsommer 1944 wurden Arbeiterinnen für ein anderes Lager selektiert, Frauen ab 15 Jahren. Drei Jahre sind für ein 12jähriges Kind viel, sie traut sich nicht, vor dem selektierenden Arzt diese Lüge auszusprechen. Die Mutter, indem sie ihren Trotz anstachelt, überredet sie, sich noch einmal in der zweiten Schlange anzustellen, was Ruth dann auch gelingt. Kurz bevor sie erneut an der Reihe ist, wird sie von der „Assistentin“ des Arztes (auch eine Häftlingin) angesprochen, sie solle sagen, sie sei 15 Jahre alt. Jetzt macht sie es, der Arzt stutzt, aber er setzt sie auf die Liste, da die Assistentin ihn auf die trotz des jungen Aussehens gut entwickelte Muskulatur aufmerksam macht. Nur wenig später nach dem Abtransport der selektierten Frauen werden alle aus Theresienstadt kommenden Häftlinge ermordet.

Mutter und Tochter kommen nach Christianstadt, einem der vielen Aussenlager des KL Groß-Rosen [7], erhalten dort Häftlingskleidung, was eine Verbesserung darstellt und werden für Arbeiten eingeteilt, für die entkräftete, heruntergekommene Frauen gänzlich ungeeignet sind, eine weitere Absurdität des ganzen Systems. Der Krieg geht langsam dem Ende zu, der Niederlage Deutschlands, die in all den Jahren nie in Frage gestellt worden war, man hofft auf die Befreiung durch die Sieger. Aber die Lager werden – man hört die Geschütze schon – geräumt, die Häftlinge in völlig unzureichender Bekleidung, ohne ausreichende Verpflegung in sogenannten „Todesmärschen“ evakuiert. Ruth, ihre Mutter und Ditha, ein Mädchen, das die Mutter „adoptiert“ hatte, fliehen aus ihrem Marsch. Im Chaos der Todesmärsche, die sich mit der allgemeinen Flucht überlagerten, gelingt es den dreien, allen Gefahrensituationen zu entkommen, sich Nahrung und ab und an einen trockenen Platz zum Schlafen zu ergattern, die Mutter kann sogar einen Pfarrer zur Ausstellung von Papieren überreden. Damit können sie einen Zug besteigen und als Flüchtlinge kommen sie nach Deutschland.

Hier erleben sie das Kriegsende mit dem Einmarsch der Amerikaner, für die die Mutter bald arbeitet. Ruth besucht die Schule und kann auf mehr oder weniger gedeichselte Art ihr Notabitur machen, schreibt sich sogar zum Studium in Regensburg ein, wo sie engeren Kontakt mit einem Studenten knüpft (Martin Walser in der Gestalt des Christoph). Da sie nicht nach Israel reisen kann, wandern Mutter und Tochter (Ditha wurde schon früher von einem Onkel in die Staaten geholt) in die USA aus, als erste Station nach New York. Der letzte Abschnitt des Buches umfasst dann die ersten Jahre in Amerika und die partielle „Rückkehr“ als Lehrende nach Deutschland. Ihren deutschen Freunden, die sich nach einem schweren Unfall um sie kümmerten, ist dieses Buch auch gewidmet.

Ruth Klügers Buch über ihr persönliches Schicksal im Dritten Reich (und der Nachkriegszeit) sticht aus anderer bekannter Literatur heraus. Es ist eine sehr persönliche, reflektierende, in Frage stellende Sicht der Dinge, die nichts akzeptiert, damit gewohnte Denkweisen angreift und dadurch verstört.

Ein Satz wie „Ich habe Theresienstadt irgendwie geliebt,…“ verstört, weil man ihn nicht einordnen kann, darf man so einen Satz sagen [10]? Liest man ein paar Zeilen weiter, wird einem klar, daß dies weniger eine Aussage ist über Theresienstadt als vielmehr über Wien, die Stadt, in der das Kind Ruth durch die soziale Isolation und Ächtung neurotisch, voller „Ticks und Seltsamkeiten, „versponnen, abgeschottet, verklemmt und vielleicht auch unansprechbar geworden war„. In der Kinderbaracke in Theresienstadt dagegen hatte sie Kontakte, konnte Freundschaften knüpfen, sich unterhalten, spielen, ein soziales Wesen werden – trotz allem. Natürlich nahm dies nicht den Schrecken weg, Ruth erlebte den täglichen Tod im Lager (auch den ihrer eigenen Großmutter), den Hunger, den Durst, die klaustrophobe Enge… d.h., dieser seltsame Satz über die guten Erinnerungen an Theresienstadt macht erst deutlich, wie krankhaft die Ausgrenzung der Juden aus dem sozialen Leben in den Städten war und gewirkt hat.

Bewahrung der Stätten. Wozu nur?

Klüger hat Probleme mit der Musealisierung der Lager, die sie zu Objekten der Neugier machen, das Eigentliche [11] aber nicht zeigen können. Sie stellt sogar ihren eigenen Bericht in Frage, denn auch sie ist ja Überlebende, schreibt also aus der Sicht eines Menschen, der nicht ermordet wurde, der nicht vergast wurde unter den Duschen der verlogenen Badestuben, der nicht auf den zuunterst liegenden Leichen der Kinder stieg, um an der Decke des Raums vllt noch einen Atemzug länger leben zu können… Theresienstadt dagegen ist heute wieder eine kleine Stadt voller Menschen, das gefällt ihr…. fast idyllisch liegen die Lager heute da, kleine Baracken, die großen Plätze, ein paar Ruinen… [12]

Das kleine Mädchen, dem so viel zugemutet wurde, behalf sich mit Dichten. Sie schrieb, verfasste eine Vielzahl von Gedichten, sie waren ihr Ventil. Hier eine Strophe eines Gedichtes als Beispiel:

Bei Tag
steht der Rauch
zäh
überm Fluß
steigt träge das Giftgas
schwellend den Schwamm der Lunge.

Zeitlebens ein schwieriges Verhältnis bestand mit der Mutter. Ruth war das einzige, was ihr noch geblieben war, alle anderen Familienmitglieder waren tot oder ihr Schicksal unbekannt. So waren die beiden zwar aufeinander angewiesen, aber es war ein gespanntes Verhältnis, nie hat Ruth sich anerkannt oder respektiert gefühlt, sondern immer nur vereinnahmt.

Anfangs habe ich es geschrieben in Bezug auf Hans, einen Cousin der Mutter: Folter trägt man sein Leben lang mit sich herum. So trägt auch Ruth Klüger die Folgen der Lager mit sich herum: Träume, das Unvermögen, in Schlangen anzustehen… die Unruhe, sie fühlt sich an keinem Ort heimisch, ist nirgendwo lang tätig und zieht oft um…. die Frage des Umgangs mit der Erinnerung, mit den Millionen Ermordeten, mit den Lagern, mit der Erinnerungskultur, die das Geschehen unwirklich werden läßt, weil sie es verfremdet.. kein Toter, kein Ermordeter, Geschändeter kann berichten, nur die, die überlebt haben, können ihre Erfahrungen schildern und die sind nicht die der Toten…:

Der Bericht, der eigentlich nur unternommen wurde, um Zeugnis abzulegen von der großen Ausweglosigkeit, ist dem Autor unter der Hand zu einer „escape story“ gediehen.

Es ist ein besonderes Buch, dieses Buch einer Frau mit einem besonderen Schicksal. Durch die Art des Schreibens versteht sie es, den Leser direkt anzusprechen, sie läßt ihn an ihren inneren Dialogen, der Suche nach ihrer Wahrheit teilhaben, auch an den Zweifeln, den Irritationen, den Selbstkorrekturen, die hie und da beim Überdenken des Geschriebenen nötig werden… Klüger verzichtet weitgehend darauf, den Schrecken der Lager in seinen Einzelheiten zu schildern, ihr reicht die Andeutung, die Erwähnung. Es ist wohl auch ein Versuch der persönlichen Aufarbeitung des nicht Aufarbeitbaren, des immer irgendwo im Inneren lauernden Schreckens, der jederzeit geweckt und an die Oberfläche dringen kann, ein Versuch der Einordnung und der Frage: was fang ich, was fangen wir an mit all den Erinnerungen, wie können wir damit umgehen….

Links und Anmerkungen:

[1]  http://de.wikipedia.org/wiki/Weiter_leben._Eine_Jugend
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Ruth_Klüger
[3] Franz Werfel: Eine blaßblaue Frauenschrift, vorgestellt hier bei aus.gelesen
[4] Wiki-Artikel zur Reichsfluchtsteuer
[5] Tatiana de Rosnay: Sarahs Schlüssel, vorgestellt hier bei aus.gelesen
[6] Wiki-Artikel zum Lager Theresienstadt
[7] Artikel zum Lager Groß-Rosen
[8] blog zum Buch: weiter leben
[9] Janine Pohle: „weiter leben. Eine Jugend“ Studienarbeit bei google.books
[10] Klüger sagt eine Seite später dann andererseits auch: „Ich habe Theresienstadt gehaßt..“ bezieht sich dabei dann auf die äußeren [Über]lebensbedingungen
[11] Iris Hanika: Das Eigentliche, hier im blog bei aus.gelesen
[12] an einer Stelle sagt Klüger aber auch: „.. wer dort etwas zu finden meint, hat es wohl schon in seinem Gepäck mitgebracht.“ Bei meinem Besuch von Buchenwald sind all die Menschen, von denen ich vorher in Berichten, Büchern gelesen habe, lebendig geworden, all die Orte waren voll von ihnen, auf den Plätzen waren sie zum Appell angetreten, die Straße rannten sie auf und ab…

Ruth_Klüger
weiter leben
Eine Jugend
 diese Ausgabe: Wallenstein-Verlag, Göttingen 1992 (Brigitte-Edition No. 5), HC, 360 S.

5 Kommentare zu „Ruth Klüger: weiter leben

  1. Wunderbar, danke, Flattersatz – das hat mich richtig neugierig gemacht!

    Da werde ich wohl am Montag tatsächlich durch Berlins momentanen Bilderbuchsommer zu meinem Lieblingsbuchladen laufen …

    Ganz herzlichen Dank für diese Anregung und eine sorglose, lesefutterreiche Zeit
    Bianka

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  2. Lieber Flatter Satz,
    danke für diese intensive und ausführliche Auseinandersetzung mit diesem hochinteressanten Buch, die es mir noch einmal ermöglicht hat, in die Lektüre abzutauchen. Ich habe „weiter leben“ im Rahmen meines Studiums bereits vor mehreren Jahren gelesen und erinnere mich noch heute sehr genau daran, wie beeindruckt ich damals von dieser Frau war. Vor einigen Monaten habe ich ihre gesammelten Besprechungen gelesen und sie auf einer Lesung erlebt. Sie ist eine sehr beeindruckende Frau, die polarisiert und eine starke eigene Meinung hat. Ich bin schon seit einigen Wochen stark an dem Film über sie interessiert, nach dem ich immer wieder über Hinweise darauf stolpere.
    Viele Grüße
    Mara

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