Franz Werfel: Eine blaßblaue Frauenschrift

Franz Werfel hat seine Erzählung um den erfolgreichen Karrieristen Leonidas Tachezy 1941 geschrieben und sie in das Jahr 1936 gelegt. Der „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich unter Hitler war im Frühjahr 1938 erfolgt [6], die – wie Werfel in seiner Erzählung auch schildert – vorbeugende Übernahme hitlersche Judenpolitik in dieser Zeit vor dem vollzogenen Anschluss feiert in den Tagen nach der (Alibi) Volksabstimmung vom April 1938 einen traurigen Höhepunkt, den Carl Zuckmayer wie folgt beschreibt: „An diesem Abend brach die Hölle los. …. Was hier entfesselt wurde, war der Aufstand des Neids, der Missgunst, der Verbitterung, der blinden böswilligen Rachsucht – und alle anderen Stimmen waren zum Schweigen verurteilt. […] Hier war nichts losgelassen als die dumpfe Masse, die blinde Zerstörungswut, und ihr Haß richtete sich gegen alles durch die Natur oder Geist Veredelte. Es war ein Hexensabbat des Pöbels und ein Begräbnis aller menschlicher Würde.“ [2]

Werfel selbst, geborener Jude, aber durch seine Erziehung stark christlich geprägt [3], unterlag natürlich auch der Verfolgung durch die Nazis, war zur Flucht gezwungen. Und ebenso gehörten seine Werke selbstverständlich auch zum Futter des großen Autodafés von 1933… [4, 5]

Der große Nachbar blähte sich 1936 also auf der anderen Seite der Grenze auf und warf schon seine Schatten nach Österreich. Und dieser Schatten streifte auch unseren Leonidas, von seiner Frau zärtlich Leon genannt.

Er stellt was dar, dieser Leonidas. Abends, mit seiner Gattin der Oper sieht er die oberen Tausend und denkt sich, daß er zu den oberen Hundert gehört als Sektionschef im Kultusministerium. Eine erstaunliche Karriere für den aus einfachen, armen Verhältnissen stammenden Mann, sie war kaum vorauszusehen, seinerzeit, als er als Hauslehrer im Haushalt des Dr. Wormser dem Filius Nachhilfe geben musste und der Tochter des Hauses, Vera, in stummer Liebe erlag…

Ein Frack änderte alles, der Frack, den ihm sein Stubennachbar, ein intellektueller Israelit, der sich in seinem Zimmer erschoss, vererbte. Leonidas machte eine gute Figur in diesem Frack (ja, Kleider machen Leute…) und zusammen mit seiner natürlichen Begabung zum Walzer tanzen wurde er bald zu Töchtern eingeladen, auf Bälle mitgenommen, ja, man kann sagen, er wurde begehrt…

Mit Amelie heiratete er ein junges Mädchen aus einer der reichsten und angesehensten Familien der Stadt, sie wollte ihn und setzte ihren Willen gegen die Familie durch. Geld war fortan kein Problem mehr für ihn, auch beruflich machte er Karriere im Staatsdienst bis er auf einer Stufe ankam, auf der er ein „… wenig wie Gott…“ war. Und ebenso handelte er in seiner verqueren, überheblichen Weltsicht quasi wie „.. ein antiker Gott, der sich in wandelbarer Gestalt zu einem Menschenkind hinab beugt. ..„, als er kurz nach seiner Hochzeit mit Amelie bei einem längeren dienstlichen Aufenthalt in Heidelberg Vera wieder traf.. So beugte er sich zu dieser herab und in sie hinein, er versprach ihr die Ehe und – als ob dies ginge – schändlicher noch: er kaufte Hausstand, Geschenke intimer Nähe und er verabschiedete sich von Vera auf der Rückfahrt zu seiner Frau mit dem Versprechen, sie in vierzehn Tagen in den gemeinsamen Hausstand nach Wien zu holen.

Zweiunddreissig Jahre war Leonidas seinerzeit, und heute, an einem Oktobertag, der wie ein April anfängt, macht er Nachzüglerpost zu seinen 50. Geburtstag auf. Und obwohl Jahre nicht gesehen, erkennt er die Schrift, die blassblaue Handschrift auf dem einen von vielen Briefen sofort wieder.. er kann den Brief vor Amelie verbergen, geht (wie erniedrigend) auf´s stille Örtchen wie vor fünfzehn Jahren, als er diese Handschrift zum letzten Mal auf einem Umschlag sah, um den Brief .. ungelesen zu zerreissen wie damals oder.. doch zu lesen?

Diesmal liest er den Brief, der sehr formal gehalten um Hilfe bittet, da er, der Herr Sektionschef, dazu die Möglichkeit doch hat: einen 17jährigen Jungen, dem in seiner Heimat die Schule verboten wurde, möge er durch seine Protektion an einer Schule unterzubringen, damit er seinen Abschluss schaffe. Natürlich, Leonidas muss dies annehmen, ohne daß es explizit behauptet worden wäre, daß dieser 17jährige das Kind sein muss, daß seinerzeit aus dieser Liaison mit Vera hervorging.

Von einem Augenblick auf den nächsten bricht die Welt des Leonidas zusammen, sein ganzes kleingeistiges Universum offenbart sich. Draußen stürmt es mittlerweile so wie in ihm… soll er seiner Amelie die Affäre und ihr Ergebnis beichten? Kaum kann er sich an Vera erinnern, und doch: er weiß es, Vera war seine Lebensliebe, die er verraten und vergessen hat…

Der Inhalt der Erzählung spielt sich an einem Tag ab. In der Folge seziert Werfel die Gedankenwelt seines Protagonisten, der sich im Innersten – unberührt von allem Dünkel, den seine Stellung bringt – seines Wesens bewusst ist: er sieht sich selbst als Freigelassener, aus niederen sozialen Schichten durch den schieren Zufall des Fracks und seiner tänerzerischen Fähigkeiten attraktiv geworden und aufgestiegen. Aber das, was er an Umgangsformen, an Nonchalance, an Auftritt lernen musste – den wirklich Oberen wie Amelie ist es eigen, sie bekommen es mit in die Wiege gelegt. So fühlt er sich abhängig von Amelie, ein Emporkömmling von ihren Gnaden, aber das schöne Leben will er nicht missen.

Und doch: auch ein gewisser Stolz ist da auf seinen Sohn, wo doch die eigene Ehe kinderlos geblieben ist. Und so packt ihn verzweifelter Mut zum Geständnis letztlich doch, er legt sich, in einer Art Stellvertreterkrieg, sogar mit seinem Minister an, indem er dafür votiert, einen jüdischen Professor auf eine vakante Stelle an der Uni zu berufen! Damit riskiert er letztlich Amt und Würden (finanziell würde er natürlich weich fallen…), es sieht so aus, als hätte er sein Rückgrat gefunden… doch wie schnell kann das vergehen… schon wenig später läßt er die Gelegenheit zur Ehrlichkeit verstreichen, auch hier erweist er sich als charakterschwach, ganz im Gegensatz zu Amelie….

Schließlich trifft er sich mit Vera, in dem Hotel, in dem sie abgestiegen ist. Während Vera sich kühl, überlegen und leicht spöttisch gibt, macht Leonidas einen gespreizten, gekünsteltes Eindruck. Die jahrelang verdrängten Gefühle für diese Frau dringen hervor,  aber an Veras sarkastischer Distanz prallt Leonidas ab… letztlich ergibt dieses Treffen, daß nichts so ist, wie es schien.. und erleichtert fällt Leonidas zurück in seine angepasste Bequemlichkeit, Mut zu beweisen, ist nicht mehr nötig, er leitet den Rückzug beim Minister ein und genießt mit Amelie den Opernbesuch als einer der oberen Einhundert….

Ein entlarvendes Stück angepassten Duckmäusertums ist es, das Werfel hier geschrieben hat. Der Staatsapparat in vorauseilendem Gehorsam unterwirft sich der angenommenen Gefahr, die durch den großen Nachbarn droht, die Juden werden ihm geopfert, es ist gelebter Antisemitismus, der hier hoch brandet und dann – wie Zuckmayer beschrieben hat – wenige Jahre später vollends ausbricht.

Was Leonidas angeht, ist es natürlich auch eine Geschichte persönlicher Schwächen, von Schuld, die jemand auf sich geladen hat, von der Unfähigkeit, dem Unvermögen, sie einzugestehen, die Konsequenzen zu tragen. Nur angesichts der (anscheinend) unvermeitlichen Konfrontation mit der Wahrheit, wenn nämlich der angenommene Sohn vor der Tür steht, läßt im Protagonisten kurzfristig den desperaten Mut zur Wahrheit aufkommen, der jedoch sofort zusammenbricht, als die Zwang dazu nicht mehr gegeben ist. Jetzt vor die Wahl gestellt, ggf sein komfortables Leben einzubüßen für eine Wahrheit, die niemandem mehr etwas nutzt, die ihm aber die Lüge von der Seele nähme, wählt er das Schweigen. Und er kann damit wohl auch gut leben, er ist erleichtert, Vera jetzt weit, weit weg zu wissen und erschöpft von dieser Konfrontation mit der Vergangenheit und der verdrängten Seelenwahrheit schläft er mit dem Beginn der Musik in der Oper ein…..

Die Erzählung wurde, wie schon angemerkt, 1941 geschrieben, der Stil ist konventionell, ein wenig behäbig, langsam, wirkt beim Lesen entschleunigend…. Werfel nimmt gibt seinen Personen Zeit, ihre Gedanken und Worte zu formulieren, er hetzt sie nicht, er begleitet vor allem natürlich Leonidas durch diesen Tag, an dem er sein Leben in Gedanken noch einmal an sich vorüber ziehen läßt, mit seinen Wendungen, seinen Zufällen – und seiner großen Lebenslüge…. es unterscheidet sich nur wenig von anderen Leben, jedes Leben wird von Zufällen beeinflusst, von Entscheidungen, die man trifft und die man auch anders hätte treffen können. In der Mitte der Erzählung findet Werfel dafür ein schönes Bild, indem er seine Figur mit einem etwa gleich alten, etwas schäbigen Mann zusammen treffen läßt. Zu einem solchen – hätte er seinerzeit den Frack nicht geerbt, weil sich … etc pp) hätte auch er werden können …..

Bevor wir Leonidas verurteilen: seien wir ehrlich, ist man erst einmal auf einem Lebensweg angekommen, ist es sehr schwierig, wieder umzukehren, alles zurück zu lassen. Frank Werfels Leonidas jedenfalls hat es nicht geschafft, ob wir es schaffen würden, ist fraglich.

Links und Anmerkungen:

[1] Wiki-Artikel über die Erzählung
[2] Carl Zuckmayer: Als wär´s ein Stück von mir (Autobiographie, zitiert nach hier). Der vollständige Absatz in Zuckmayers Buch lautet:
An diesem Abend brach die Hölle los. Die Unterwelt hatte ihre Pforten aufgetan und ihre niedrigsten, scheußlichsten, unreinsten Geister losgelassen. Die Stadt verwandelte sich in ein Alptraumgemälde des Hieronymus Bosch: Lemuren und Halbdämonen schienen aus Schmutzeiern gekrochen und aus versumpften Erdlöchern gestiegen. Die Luft war von einem unablässig gellenden, wüsten, hysterischen Gekreische erfüllt, aus Männer- und Weiberkehlen, das tage- und nächtelang weiterschrillte. Und alle Menschen verloren ihr Gesicht, glichen verzerrten Fratzen; die einen in Angst, die anderen in Lüge, die anderen in wildem, hasserfülltem Triumph. Ich hatte in meinem Leben einiges an menschlicher Entfesselung, Entsetzen oder Panik gesehen. Ich habe im Ersten Weltkrieg ein Dutzend Schlachten mitgemacht, das Trommelfeuer, den Gastod, die Sturmangriffe. Ich hatte die Unruhen der Nachkriegszeit miterlebt, die Niederschlagung von Aufständen, Straßenkämpfe, Saalschlachten. Ich war beim Münchener »Hitler-Putsch« von 1923 mitten unter den Leuten auf der Straße. Ich erlebte die erste Zeit der Naziherrschaft in Berlin. Nichts davon war mit den Tagen in Wien zu vergleichen. Was hier entfesselt wurde, hatte mit der »Machtergreifung« in Deutschland, die nach außen hin scheinbar legal vor sich ging und von einem Teil der Bevölkerung mit Befremden, mit Skepsis oder mit einem ahnungslosen, nationalen Idealismus aufgenommen wurde, nichts mehr zu tun. Was hier entfesselt wurde, war der Aufstand des Neids, der Missgunst, der Verbitterung, der blinden böswilligen Rachsucht – und alle anderen Stimmen waren zum Schweigen verurteilt. […] Hier war nichts losgelassen als die dumpfe Masse, die blinde Zerstörungswut, und ihr Haß richtete sich gegen alles durch die Natur oder Geist Veredelte. Es war ein Hexensabbat des Pöbels und ein Begräbnis aller menschlicher Würde.
[3] Wiki-Artikel über Franz Werfel
[4] In dieser Bücherverbrennung wurden ja nicht nur Bücher verbrannt, es wurden ja auch Menschen geopfert. Ein Schriftsteller, der in einem diktatorischen Regime verboten ist, dessen Werke verbrannt werden, die nicht verlegt, verkauft, in Bibliotheken ausgestellt werden dürfen, ist als Schriftsteller ausgelöscht, er existiert nicht mehr. Und nicht jeder Autor hat in der Emigration zu neuer Schöpferkraft gefunden…. vgl. auch hier bei aus.gelesen
[5] Liste der verbrannten Bücher in der Wiki
[6] Wiki-Artikel zum „Anschluss

Franz Werfel
Eine blaßblaue Frauenschrift
diese Ausgabe: Fischer TB, 160 S. 2001

2 Kommentare zu „Franz Werfel: Eine blaßblaue Frauenschrift

  1. Das angepaßte Duckmäusertum…..es ist m.M. nach kein Symptom der damaligen Zeit, hat sich soviel verändert, ducken wir uns heute nicht wieder, wenn unser Wohlstand, die Umwelt in Gefahr ist….
    Es braucht nur jemand mit dem Wegfall von Arbeitsplätzen zu drohen, schon verstummen alle Proteste und Umweltschutz ist dort passé, wo es um wirtschafltiche Interessen geht: Antarktis usw. usf.
    Der demographische Wandel….die verantwortlichen Staatsträger, ihnen ist er schon lange bewußt….aber es ist ja meist die ältere Generation und die sagen sich buchstäblich: nach mir die Sintflut und lassen die junge Generation im Stich.
    Wir Menschen scheinen nicht lernfähig zu sein….traurig aber wahr…
    Der Stil des Buches ist ein wenig betulich und altmodisch, aber der Titel ist schön -:)))

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    1. natürlich, liebe sternschnuppe, gibt es duckmäusertum auch heutzutage, so war meine aussage in der buchvorstellung auch nicht zu verstehen, daß es eine nur damals vorkommende eigenschaft gewesen sei. ähnlich wie mann in seinem untertanen gezeigt hat, sind dies archetypen für verhaltensweisen, die dem menschen immanent sind. es gibt ausnahmen, die nennen wir helden, die öffentlichen wie die stillen… normal ist aber leider das beschriebene wegducken: wie geht der kelch an mir vorüber, so daß ich am wenigsten darunter zu leiden habe….

      du sagst, die älteren würden die junge generation im stich lassen. das stimmt in einem gewissen grade. aber ist es nicht zu einfach, ausschließlich der älteren generation die verantwortung aufzudrücken? niemand verbietet es den jungen menschen, aufzubegehren, zu protestieren oder selbst zu versuchen, die dinge in die hand zu nehmen. aber da herrscht meist vornehme zurückhaltung und die grünen, die seinerzeit ein aufbegehren der jüngeren waren, sind mittlerweile selbst establishment während die piraten sich ja gerade selbst mit lust und wonne versenken .. will heißen, etwas intelligenz und organisationvermögen ist natürlich schon nötig für eine revolution… ;-)

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