Selim Özdogan: Mehr

„Mehr“ ist ein früher Roman des deutsch-türkischen Schriftstellers Selim Özdogan [1], der mir bis dato unbekannt war, wobei sich das „der“ sowohl auf den Autoren als auch (logischerweise dann) auf den Titel bezieht. Wieder mal ein Argument dafür, die Bücherkisten, die am Wegesrande stehen, zu durchwühlen…

Es ist die in der Ich-Form erzählte Reise eines 26jährigen Deutschtürken [3] durch sein bisheriges Leben, um dabei den Übergang zu finden in die Welt der Erwachsenen (eine zweite Pubertät sozusagen), denn natürlich steht die Zukunft vor der Tür auch dieses jungen Mannes, nur: es ist nicht immer einfach, diese Tür zu finden und wenn, ist es die richtige? Hinter der nächsten könnte ja noch „mehr“ verborgen sein, ein „mehr“ an gutem Leben, an Sex, an Essen, an Frauen, an Drogen…

Der Erzähler ist als Kind nach Deutschland gekommen und hat noch einen großen Teil der Familie in der Türkeit. So beginnt der Roman mit seinem Rückflug von dort, wo er die Hochzeit seiner Cousine mitgefeiert hat, im Flieger, in dem wieder mal alles zu eng ist, die Nachbarn zuviel reden und er sich sichtlich unwohl fühlt. Überhaupt hat es das Schicksal nicht gut gemeint mit dem jungen Mann, entließ es ihn doch in eine Welt, die von tumben, eitlen und oberflächlichen Menschen bevölkert ist, die ihm, der sich natürlich anders einschätzt, gehörig auf die Nerven geht. Nur selten kommt ihm der Gedanke, ob er nicht vielleicht doch auch…

Unser Romanheld ist selber Schriftsteller, ein Autor, der aber nicht vom Erlös seiner Schreiberei leben kann, auch wenn man ihm zugestehen muss, daß er nicht sonderlich anspruchsvoll ist in seiner Lebensführung. Hie und da ein Artikel in einer Zeitschrift, aber auch das ist öde und grenzt an Verrat an seinen Idealen, sich nicht zu verkaufen, sich nicht zu verbiegen. Nein, seine Ziele liegen höher als in Betrachtungen darüber, ob man beim Sex das Licht an oder ausmachen sollte (für beides gibt es ja gute Argumente…). Wenn es gar zu knapp wird mit dem Geld, Dominik, mit dem er zusammen wohnt, die Miete mal wieder nicht gezahlt hat, nimmt er auch Aushilfsarbeiten an und jobt. Seine Zeit verbringt er mit Anika, die als Anstreicherin und Malerin arbeitet, er ist gern bei ihr, es könnte sein, daß er sie sogar liebt, aber wenn er eine andere sieht mit süßem Hintern, warum soll er dem nicht nachstieren?

Die Träume der Jugend sind verflossen, die Gang, die er damals mit seinen türkischen Kumpels hatte (aber auch hier stand er schon ein wenig am Rand, nicht im Zentrum) existiert nicht mehr. Ab und an trifft er einen der Kumpels, Celal sieht nicht gut aus, anzunehmen, daß er dealt und Drogen nimmt, Cem macht eine kleine Karriere beim Film… auch die Clique der deutschen Freunde verläuft sich, Patrick heiratet und arbeitet im Filmbusiness, Frank beschläft jede, die nicht bei drei auf den Bäumen ist, aber nur kein Gefühl investieren. Und Moritz ist Estelle verfallen, aber Estelle spielt mit ihm, so daß er zum bemitleidenswerten Hanswurst wird. Der Nostalgietrip ans Meer, so wie früher abhängen, quatschen, saufen und kiffen, er funktioniert nicht mehr. Alte Zeiten sind das, was sie sind: alte Zeiten, nicht recyclingfähig.

Seine Freundin Anika muss eine zeitlang weg zu ihrer schwerkranken Mutter und der Erzähler ist allein. Er langweilt sich, alles ödet ihn an, auch Dominik ist nicht zu Hause, sondern zeitweise ausgestiegen auf einer Südamerikareise. Zwar besucht er Anikas Mutter und Familie, doch fühlt er sich am Krankenbett unwohl, die Atmospäre behagt ihm nicht. Zu Hause findet er Trost, Filiz spendet ihn. Er ist gern mit ihr zusammen, es gefällt ihm sehr, irgendwas ist zwischen ihnen, das zwischen ihm und Anika nicht (mehr) ist… es wird enger zwischen den beiden, es bleibt nicht beim Kuss, zumindest nicht bei dem auf den Mund….

Wieder eine kleine Flucht aus der öden Welt zurück in die Türkei. Auch dort gibt es Frauen, die ansehnlich sind, reizen. Aber hier und jetzt bleibt es beim Kuss, aber was für einer….

.. und doch. Unser Held hat sich entschieden, er ist einen Schritt weiter. Wieder in Deutschland angekommen, geht er den schweren Gang, die Treppe hoch, klingelt, tritt ein in die Wohnung, in der ihn voller Freude Filiz erwartet. Die Filiz, die er getäuscht hat, denn jetzt erst sagt er ihr, daß er eine Freundin hat und bei dieser bleiben will…. und auch Anika erzählt er von der Affäre und dabei macht er den dümmsten Fehler, den man machen kann. Hat denn den Menschen noch nie jemand erzählt, daß man die Wahrheit nicht unbedingt deswegen sagt, weil man so ein toller Mensch ist, sondern, weil man selbst schlicht und einfach nicht mit ihr leben kann und man im Moment, in dem man beichtet, die Verantwortung für alles, was geschieht, abgibt. Jetzt ist man Sünder, der seine Strafe erträgt und büßt. Und dann begeht er einen noch größeren Fehler, wieder aus dieser Dummheit heraus, angeblich den anderen zu schonen, wo man doch in Wahrheit nur selbst den Konsequenzen ausweichen will…

So ist dieser junge Mann in seinem quängelnden Selbstmitleid, seiner Unzufriedenheit, seiner mangelnden Entschlusskraft und seiner Suche nach dem Glück nicht unbedingt mein Idealheld.. und doch: dieses Buch ist schön. Es hat eine schöne, fließende Sprache voller Bilder, voller Vergleiche, eine Sprache, die den Leser mitnimmt [2], auch wenn man inhaltlich das Gefühl hat, daß sich immer wieder alles im Kreis dreht. Aber es gibt Stellen im Text, bei denen man verweilt und feststellt: jawohl, so ist es, genauso, nur du selbst konntest das nicht so sagen….  Und so habe ich den Roman letztlich doch mit Freude zu Ende gelesen, auch wenn mir der Opa des Protagonisten mit seinen einfachen Wahrheiten und seinem großen Herzen viel näher gekommen ist als sein Enkel.

Links und Anmerkungen:

[1] zur Website des Autoren
[2] eine hübsche Idee, offensichtlich programmatisch bietet Özdogan diese Seite bei allen seinen Texten als Leseprobe an…
Die Leseprobe: “ Mehr
[3] der Begriff Deutschtürke, mit dem auch der Autor in den auffindbaren biographischen Angaben stets bedacht wird, gefällt mir zwar nicht, aber ich konnte keine Angaben darüber finden, welche Staatsangehörigkeit Özdogan nun hat. So trifft er in seiner Unbestimmtheit vllt dann doch den Kern, zumindest kann sich jeder etwas darunter vorstellen…

Selim Özdogan
Mehr
diese Ausgabe: Büchergilde Gutenberg, 246 S., 2000

4 Kommentare zu „Selim Özdogan: Mehr

  1. Ja, ja, Herr Özdogan. Mit ihm verbinde ich ein breites Grinsen und unterhaltsame Lesestunden. Mein erstes Buch war dieses mit dem langen Titel: „Es ist so einsam im Sattel, seit das Pferd tot ist“. Ich habe es mir damals aus der Bibliothek ausgeliehen und war mein halbes Leben lang traurig, dass ich es nicht besitze. Und dann vor einem Jahr fiel es mir irgendwo in die Hände. (Damit hatte ich insgeheim auch gerechnet.) Es ist so wie du es schreibst vor allem seine Sprache, die einen mitnimmt, aber auch die Protagonisten, die ich liebgewinne, auch wenn wir uns nicht immer ganz einig sind. : ) Ja, ja, Herr Özdogan. Ich könnte bald mal wieder etwas von ihm lesen. Also vielen Dank für deine ausführliche Rezension!

    Es grüßt dich herzlich,

    die Klappentexterin aus der großen Stadt

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    1. liebe klappentexterin, der gute Özdogan ist einer jener mittlerweile heerscharen von schriftstellern, die bei mir in der schublade: „musst du noch eins lesen von“ liegt: eine ehrlich gemeinte absicht, die ich wahrscheinlich nie verwirklichen werde… es gibt einfach zu viel zum lesen….

      ich sende dir grüße vom hinteren land in die große stadt! :-))

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  2. Bücher von Selim Özdogan habe ich bereits gelesen und es stehen noch zwei ungelesene in meinem Regal. Mir gefällt, wie und worüber der Autor schreibt. Von „Mehr“ habe ich bis jetzt noch nie etwas gehört und ich danke Dir, dass Du das Buch gelesen und vorgestellt hast, lieber Flatter Satz. Ich werde es mir bei Gelegenheit kaufen, wenn ich noch ein schönes Exemplar irgendwo „am Wegesrande“ finde.
    Viele Grüße und ein schönes Wochenende
    Bibliophilin

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    1. die büchergilde hat wirklich schöne bücher, ich habe ja schon mal eins (das aus der selben wühlkiste stammte) hier vorgestellt. mir hat der kerl, den er als hauptperson hatte, nicht so „zugesagt“, aber vllt ist die darstellung ja auch ganz realistisch, wenn die „startbedingungen“ schwierig sind, verzögert sich auch das Auffinden des eigenen Weges im Leben…
      danke für deinen besuch, liebe bibliophilin!
      lg
      fs

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