Leon de Winter: Leo Kaplan

Was schreibt man über ein Buch, dem die Lust am Erzählen anzumerken ist, am Fabulieren, am Ausschweifen, einem Buch, in dem der Autor sich (gottseidank!) nicht scheut, auch die Geschichte rosa Tischtücher zu erzählen, in dem er Hunde zu Wort sich melden läßt, mit ihren Ansichten über das menschliche Verhalten und durch das sich wie ein roter Faden die Liebesgeschichte zweier Menschen webt, die zueinander nicht kommen können.

Den Inhalt wiederzugeben ist so gut wie unmöglich, dann könnte man auch gleich das ganze Buch hier abdrucken. Also dann und daher die Geschichte der Titelperson, des Leo Kaplan, Sohn jüdischer Eltern aus Den Bosch in den Niederlanden, benannt nach seinem Onkel Leo, der seinerzeit zu einem Transport gerufen wurde, von dem er nie wiederkam. Sein Vater, mit seinem Fleiß und seinem Geschäftssinn, verdient sein Geld mit alten Sachen, Lumpen, alten Büchern, viel Geld verdient er, so viel, daß er sich eine weiße Villa bauen kann draußen, am Rand der Stadt, im ehemaligen Schwemmland. Und doch bleibt er für die Leute immer nur der Jud Kaplan, der nicht dazu gehört. Mit viel Liebe, erstickender Liebe, angstvoller Liebe erziehen sie ihren Leo, all ihre Hoffnungen ruhen auf ihm. Dieser Leo nun lernt in jungen Jahren, gerade Student geworden, in einer Kneipe Ellen kennen, genauso alt und genauso an ihrem Elternhaus, in dem die SS-Uniform eingemottet in der Truhe aufbewahrt wird, leidend. Und so sie sich kennenlernen, schließt sich ein Kokon um sie, der die Welt ausspart, der die Liebe, die ihre Körper füreinander so wie ihre Seelen spüren, einhüllt. Sie brauchen die Welt nicht mehr in ihrem Glashaus.

Doch die Welt klopft an die Wand und Leo hört dieses Klopfen. Es ist eine politisch aufgewühlte Zeit damals in den 6oer Jahren und Leo verspürt im Gegensatz zu Ellen den Drang, dabei zu sein. Er ist kein Anführer, er ist der Mann an der Vervielfältigungsmaschine und so wie der die Flugblätter vervielfältigt, so „vervielfältigen“ sich auch Ellen und er: in ihr wächst ein Kind heran. Eine Reise soll die beiden wieder näher zueinander bringen, aber Leo sagt die Reise ab, er hat die große Chance, in den Vorstand der Studentenvereinigung gewählt zu werden. So fährt Ellen allein, tief verletzt, verwundet und kommt wieder heim, ohne das sie spürt, daß jemand auf sie gewartet hätte. In ihrem Schmerz, ihrer Wut will auch sie weh tun, dies heimzahlen und so teilt sie Leo, als dieser nach Hause kommt, mit, sie hätte das Kind wegmachen lassen.

Natürlich ist dies nur der Endpunkt einer unglückseligen Entwicklung, aber es ist der entscheidende Moment, denn mit dieser Mitteilung ist etwas in die Welt gesetzt, daß nicht mehr wieder gut gemacht werden kann. Wieviele Minuten hätte Ellen gehabt, unfähig in ihrem eigenen Schmerz, ihrer eigenen Verzweifelung über die anscheindend abhanden gekommene Liebe Leos, diese Unwahrheit wieder rückgängig zu machen: „Verzeih, es stimmt nicht, ich war so verletzt, ich wollte dir nur weh tun so wie du mir weh getan hast…“. Sie verstreichen, diese Minuten und Leo verläßt mit einer Tasche in der Hand die gemeinsame Wohnung. Sie werden sich viele, viele Jahre nicht mehr sehen.

Beider Lebensweg gerät jetzt stark ins Schlingern. Leo vagabundiert durch Europa, unstetig, immer auf einer Art Flucht. Läßt sich in Italien eine zeitlang von einer Witwe aushalten, bis er auch von dort weggeht. Er schmeisst das Studium, wird Schriftsteller, hat Erfolg mit seinen Bücher, schreibt für Zeitungen, ein bekannter Mann. Ein Mann, dessen Ehen scheitern, denn seine Frauen sind nicht die eine, die er wirklich liebt und die er durch Zufall nach vielen Jahren in Kairo in Begleitung eines jungen Mannes, ihres Sohnes offensichtlich, in einem Krankenhaus sieht, in dem ihm nach einem nächtlichen Abenteuer mit einer sehr jungen äthiopischen Prostituierten ärztlich geholfen werden musste. Eine Schreibblockade ist die Folge dieser einseitigen Begegnung mit seiner Jugendliebe und er gibt sich nun jedem Schoss hin, der sich für ihn öffnet. Und es sind einige…

Ellen also hat vor ihrem Kind die Lüge geboren. Jetzt, wo Leo gegangen ist, braucht sie einen Vater, denn das Kind wird geboren werden und soll einen Vater haben. Sie kann einen jungen Mann nennen, der in der Tat der Vater sein könnte, der aber – de Winter liebt die Ironie – gerade daran stirbt, daß er nicht der Vater ist. So wird der junge Maurits gleich als Halbwaise geboren, aber die vermeintlichen Großeltern nehmen sich seiner und seiner Mutter liebevoll an. Es ist die Lüge ihres Lebens, sie versteinert in ihr, sie wird immer aufauflösbarer, sie liegt auf Ellen Seele, selbst wenn sie sie im Laufe der Jahre für einige Zeit vergessen kann.

Im Gegensatz zu Leo, der sich treiben läßt, hat Ellen durch die „familiären“ Bande einen Halt, der sie durch die lange Zeit des Trennungsschmerzes auffängt, bis sie dann irgendwann Frank kennenlernt, der sich in sie verliebt und sie dann auch langsam lernt, ihn zu lieben. Sie heiratet, wird Gattin eines Diplomaten mit den entsprechenden Verpflichtungen und lernt so die Welt kennen.

Und dann ist sie in Rom und sieht im Veranstaltungsprogramm der Botschaft, dass der berühmte Schriftsteller Leo Kaplan sein Buch, das in einer italienischen Übersetzung erscheinen soll, vorstellen wird. Und hier also treffen sich die beiden wieder, nach vielen, vielen Jahren, Ellen, die verheiratete Frau mit einigen Geheimnissen und Leo, der Schriftsteller, der glaubt, er könne die Zeit zurückdrehen, jetzt, wo er weiß, wer die Liebe seines Lebens ist.

Um diesen sich erst im Lauf des Romans herausschälenden Kern drapiert de Winter eine Vielzahl von Personen mit ihrem Geschichten, Eigenheiten und Vorkommnissen. Man sollte sich auf diese Nebenschauplätze einlassen und ihnen einfach folgen wie bei der Geschichte um das schon erwähnte rosa Tischtuch, mit dem eine Vielzahl von Schicksalen verknüpft ist bis hin zu einem Serienmörder, über den der Autor dann eine kühnen Rückkehr zur Hauptgeschichte findet, oder die tragische Geschichte der Trapeztruppe, die mit der eigentlichen Handlung nichts zu tun hat, außer dem Bild des Gleichgewichts, das in einer solchen Truppe herrschen muss wie auch in einer Ehe.

Durch die vielen Handlungen und Nebenschauplätze treten eine Vielzahl von Personen im Buch auf, alle lebendig, glaubwürdig und farbig geschildert. Allen voran natürlich die Titelperson, Leo Kaplan, mit unübersehbaren Ähnlichkeiten zum Autor (bis hin zu Deutungen früherer Romane, die de Winter geschrieben hat und die er hier seinen Kaplan hat verfassen lassen). Und Leo Kaplan ist nicht wirklich sympathisch. Ein haltloser, prinzipienloser Mensch, der noch auf dem Weg zu einer Aussprache mit seiner zukünftigen Exfrau eine andere beschläft, ein Mensch, der an seiner Herkunft, dem kleinbürgerlichen jüdischen Milieu leidet, das ihn durch die seltsame Testamentsbedingung seines Vaters über Jahre hinweg verfolgt und der gleichzeitig versucht, über seine schriftstellerische Existenz Profil zu gewinnen.

Wäre Kaplan ein anderer geworden, wenn er damals mit Ellen zusammen geblieben wäre? War diese Liebe damals für die beiden jungen Menschen zu groß, als daß sie sie schultern konnten? War sie zu verschieden, ihre Liebe, Ellen mit ihrem Wunsch, unter der Glasglocke in Zweisamkeit sich von der Welt abzuschotten und Leo mit seinem Drang, sich auch in der Welt zu beweisen, dazu zu gehören? Der Bruch jedenfalls wirkt sich auf beide unterschiedlich aus: während Ellen ihr Leben letztendlich in den Griff bekommt und kontrollieren kann, bleibt Leo auf der Stufe des unglücklich verliebten, des verlassenen stehen. Seine Ehen so wie seine sexuellen Abenteuer sollen nur betäuben, überdecken, vertuschen, daß er einsam ist, daß er den Verlust Ellens nie verkraftet hat. In jeder Frau sucht er nur diese eine und kann sie natürlich nicht finden und so wie jeder Abhängige im Lauf der Zeit immer mehr braucht von seiner Droge, so geht es dann auch unserer Titelfigur. Und während Leo nach fast zwei Jahrzehnten immer noch von einem gemeinsamen Leben träumt, einer Flucht dorthin, weiß Ellen, daß sie für diese Fantasie ihr bisheriges Leben nicht opfern kann und nicht opfern will….

Hat sich Leo durch das Wiedersehen mit Ellen geändert? Wohl ist er seinem Geheimnis, dem Verlauf seines bisherigen Lebens nachgegangen, doch glaube ich nicht daran. Noch im Epilog, der einige Zeit nach Rom spielt (und in dem Betty, (mit der er jetzt offensichtlich zusammenlebt und die eine Freundin von Paula ist/war, mit der er in Rom zusammen war, als er Ellen traf) dem alten Udo Jürgens Schlager: „Aber bitte mit Sahne“ eine ganz neue Bedeutung gibt), telefoniert er mit seiner Freundin und defloriert in der gleichen Nacht die schon etwas angejahrte Tochter seines Gastgebers… mir scheint, er hat nichts dazu gelernt….

Facit: ein farbenfroher, mitreissender, ausufernder Roman um einen Mann, der seine Jugendliebe zwar verlassen hat, sich aber von ihr nie lösen konnte….

Leon de Winter
Leo Kaplan
aus den Niederländischen von Hanni Ehlers
Diogenes Verlag,
Originalveröffentlichung: Amsterdam 1986

7 Kommentare zu „Leon de Winter: Leo Kaplan

  1. Lieber flattersatz,
    schön, dass Du Dir doch die Mühe gemacht hast und das Buch vorgestellt hast. De Winter hat mich mit seinem letzten Roman „Recht auf Rückkehr“ sehr berührt. Danach war ich nicht schlüssig, welches Buch ich jetzt von ihm lesen soll. „Leo Kaplan“ scheint genau das Richtige zu sein!

    +1

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  2. Verehrter flattersatz,

    ich lächle und freue mich, dass dir dieses Buch so gefallen hat. Es gehört zu meinen Lieblingen. Ich habe es vor vielen Jahren gelesen und fand es einfach nur großartig, aus den gleichen Gründen wie du. Danke für deine wunderbare Rezension! Noch kurz: Wie bist du auf das Buch gestoßen?

    Liebe Grüße zum Wochenende

    Klappentexterin

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    1. geschätzte (klappen)texterin,

      es ist eine freude, dich wieder mal auf meinem blog zu lesen, obwohl auch ich mich in der letzten zeit aus eben diesen gründen etwas rar machen muss….

      wie ich zu dem „kaplan“ gekommen bin? nun, wie weiter oben schon gesagt, bin ich durch eine frage („ob ich das buch kenne und wie ich es fände“) darauf aufmerksam gemacht worden. das ist das, an was ich mich erinnere….

      natürlich bin ich auch neugierig, nämlich darauf, warum diese info interessant ist….

      momentan lese ich übrigens „hoffmanns hunger“, der im „kaplan“ ja eine nicht ganz unerhebliche rolle spielt. es entspricht in seiner art ganz dem „kaplan“, eine nicht enden wollender erzählfluss….

      auch dir liebe grüße fürs wochenende und ein gutes buch, das dich darin begleitet…

      fs

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      1. Die Freude ist ganz meinerseits. Ja, die gute Zeit, die im Nacken sitzt, aber es ist immer wieder schön, zu wissen, wo man seine Zeit gern verbringt, wenn sie denn da ist.

        Danke dir für deine Antwort! Freut mich, dass dir „Hoffmanns Hunger“ ebenso gefäll. Ich habe von dem Buch bisher nur Gutes gehört.

        Das Wochenende habe ich weniger in einem Buch verbracht, dafür mehr in meiner wunderbaren Stadt aus der Sicht einer Touristin und konnte so Orte/Straße entdecken, die ich noch nicht kannte.

        Einen guten Ausklang und schönen Wochenstart morgen wünsch ich dir!

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  3. Lieber flattersatz,
    schön, dass Du Dir doch die Mühe gemacht hast und das Buch vorgestellt hast. De Winter hat mich mit seinem letzten Roman „Recht auf Rückkehr“ sehr berührt. Danach war ich nicht schlüssig, welches Buch ich jetzt von ihm lesen soll. „Leo Kaplan“ scheint genau das Richtige zu sein!

    Viele liebe Grüße
    Vera

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    1. mir hat es de winter ziemlich angetan, ich habe mittlerweile noch zwei andere romane bei mir auf dem tisch liegen. unter anderem den, den er in seinem kaplan zitiert, hoffmanns hunger. will doch mal sehen, was dahinter steckt….

      jetzt muss ich aber doch mal dumm fragen: hatten wir mal eine unterhaltung über dieses buch? ich bildete mir ein, ein anderer blogkollege hätte mich darauf gebracht. aber mein gedächtnis und ein schwamm: wo ist da eigentlich ein unterschied? nur geringgradig, so kommt es mir manchmal wenigstens vor….

      dir auch liebe grüße in dein glasperlenspiel (wie oft habe ich das buch schon in den händen gehalten und dann doch wieder gescheut. ist jetzt auch so ca. 30 jahre her, daß ich ihn las….)

      fs

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