Husch Josten: In Sachen Joseph

„So stand Herr Nienhaus auf und ging den Feldweg geradeaus, weit geradeaus, schickte Gott und das Glück in die andere Richtung. Dahin liefen die beiden immer noch und hatten nur einmal – in einer obskuren, unergründlichen Kreisbewegung – seinen Weg gestreift mit Helen, der größtmöglichen Version vom Glück.“

Hauptfigur des Jostenschen Erstlings ist Helen, die 38jährige Leiterin der Museumsbibliothek einer ungenannten Stadt [3]. Helen ist beziehungsschwach. Sicher, Männer gibt es in ihrem Leben, zuvörderst wäre Jonathan zu nennen, der aber eines Tages eine andere auf ihren(m) Schreibtisch (flach)legt (auch der Fleck auf der Klarsichthülle war entgegen der ersten Vermutung kein Yoghurt) und vor dem sie sich jetzt – sieht sie ihn auf dem Markt – hinter dort aushängenden Schweinehälften versteckt. Dann wäre da noch der wunderschöne Mann zu nennen, mit dem sie in Venedig war und der dort angesichts kultureller Barbarei die Nerven verlor… jetzt ruft sie ab und an, wenn es sein muss, den Koch aus ihrer Kantine an, der sich schnell und problemlos zu einem Treffen überreden läßt. Ihr verlässlichster Freund jedoch ist titelspendender Joseph, jener zwei Jahre ältere Beschützer schon aus Sandkastenzeiten, dem sie zu verdanken hat, daß ihr der seinerzeit in einem Spielunfall guillotinierte Finger erhalten blieb.

Von jenem Joseph träumt sie zweimal denselben Traum: jener legt sich in einen Sarkophag, schließt den Deckel und kommt nicht mehr heraus. Sie weiß sich und ihm nicht zu helfen, es ist davon auszugehen, daß Joseph stirbt, er diesen Weg gewählt hat, um – zynisch wie er ist – einem vermuteten, immerhin möglichen Herztod zuvorzukommen. Und Helen glaubt diesen Traum, man kann sie nicht davon abbringen, er wird eintreffen, sie ist zutiefst demzufolge natürlich verunsichert, muss noch ein paar Dinge regeln, die Joseph nie regeln würde, bevor die Prophezeiung sich erfüllt, auch wenn Martha, die Mutter Josephs, ihr versichert, ein Traum würde nie was über die Person sagen, von der er handelt, sondern immer etwas über die, die ihn träumt….

Was bringt Helen so durcheinander? Sie muss für ein paar Tage den 76jährigen Herrn Nienhaus versorgen, dessen Frau, ihre Mutter, für eine kleinere Operation im Krankenhaus ist. Sie schläft also wieder in ihrem alten Kinderzimmer, sieht ihren Vater, der seit dem Tag seiner Pensionierung vor 15 Jahren im Stuhl sitzt und nicht mehr vor die Tür geht und sieht sich unvermittelt wieder in die Situation ihrer Kindheit, ihrer Jugend zurückgeworfen. Es kann kein sehr liebevolles Elternhaus gewesen sein, überschattet zudem von einer nazibehafteten Vergangenheit. Helen jedenfalls sah sich seinerzeit gezwungen, zu einem sehr intensiven seelischen Hilfskonstrukt zu greifen, das bis in die Gegenwart hineinwirkt, besagter Joseph, von seinen Eigenschaften her das völlige Gegenteil zu ihr, war ihr eine große Hilfe dabei. Jetzt jedoch zeigen sich Risse im Verhältnis zu ihm. Den leicht exaltierten Sohn einer Schulfreundin, die sie zufällig vor ihrem alten Elternhaus trifft, ist Joseph, der mit Frauen „kopulativ verkehrt“ so ähnlich, daß ihr sofort klar ist, wer sein Vater sein muss… Ohne mehr zu verraten, es ist nicht das einzige, was in diesen Tagen in Helens Leben hereinbricht.

… Als wäre Unruhe ein Stufenplan, der sich in fünf Tagen jeden Bereich ihres Seins, ihres geordnete, überschaubaren Lebens vornahm. … Dabei ist alles unerschütterlich gewesen. Kalkulierbar. Helen hat getan, was getan werden musste. Jahrelang und sorgfältig. Verlässlich und unaufgeregt. Und der Rest, gelegentliche Ablenkung, war abrufbar. Bei Dennis beispielsweise, dem verheirateten Kantinenkoch.“

In diesen wenigen Tagen im März 2010 [3] bricht die Welt der Helen zusammen, alles sicher geglaubte erweist sich als brüchig und falsch, sie wird aus ihrer so streng aufrecht erhaltenen Lebensordnung hinauskatapultiert und fühlt sich jeden Haltes beraubt. Sie reagiert zunehmend erratisch und hysterisch, steigert sich immer weiter hinein in die Vorstellung des zu erwartenden Todes von Joseph und fühlt selbst, daß sie an einem Scheidepunkt ihres Lebens steht und daß ihr Verhalten immer seltsamer wird. Und im Zentrum all ihren Denkens steht Joseph, mit dem sie die letzte, entscheidende Auseinandersetzung suchen muss.

Und wieder mal bin ich mit dem Klappentext eines Buches über Kreuz. Jostens Buch ist für mich eben keine Geschichte von Liebe und Freundschaft, Helen ist zu solchen Gefühlen garnicht fähig. Ihre Welt sind die Bücher, hört sie ein Zitat oder eine Redewendung, fällt ihr sofort die Signatur des Buches in ihrer Bibliothek ein… und auch der Begriff „Wahrheit“ passt m.E. nicht auf dieses Schicksal. Es ist für mich die Geschichte einer Frau, die als Kind keine Liebe erfahren hat, die sich schon als Kind eine eigene innere Welt aufgebaut und in dieser über Jahrzehnte hinweg Zuflucht gefunden hat. Es gab schon früher Versuche von ihr aus dieser imaginären Welt auszubrechen, aber offensichtlich hat erst die (zeitweise) Rückkehr in ihr Elternhaus, diese Konfrontation mit ihrer Vergangenheit, die seelische Qual so groß werden lassen, daß sie ihren eigenen Zustand letztlich als „krankhaft“ empfindet.

Die tragische Nebenfigur, und ich möchte sie nicht unerwähnt lassen, weil sie mich fast noch mehr als Helen berührt hat, ist für mich der in seinen Eigenschaften recht seltsam wirkende Herr Nienhaus, den seine Tochter nie Vater nennt. Vielleicht zum ersten Mal kommen die beiden jetzt bei ihrem notgedrungenen Kontakt ins Gespräch bzw. erzählt Herr Nienhaus seiner Tochter aus seiner eigenen erschütternden Geschichte, die ihn früh gelehrt hat, mit dem kleinen Glück zufrieden zu sein. Der nie Vater genannte wird nie ein Vater gewesen sein für Helen, die Ehe der Eltern nicht aus Liebe, sondern als bewusste Entscheidung. Das Unglück, daß Herrn Nienhaus in seiner Kindheit auf´s schwerster verletzt hat, verletzt auch seine Tochter, hat der ganzen Familie keine Chance auf eine normale Kindheit gegeben.

Jostens Sprache ist nicht einfach. Es gibt Bücher, deren Sätze hüllen den Leser ein, laden ihn ein, die Reise durch die Seiten mitzumachen. „In Sachen Joseph“ gehört nicht zu dieser Sorte Büchern. Es will erlesen werden, aufmerksam und konzentriert. Nur lesen reicht nicht aus, die Erzählperspektive wird oft und unvermittelt gewechselt. Josten bevorzugt das Objekt, ihre Sprache ist Substantivisch. Sie ist niemand, der einfach nur fragt, wie es der Freundin geht, ob es ihr gut geht oder die sich vergewissert, daß es ihr gut geht. Nein, Helen vergewissert sich über ein Befinden. Auch Joseph. Er hat nicht einfach nur viele Freundinen oder schläft mit vielen Frauen, nein, er verkehrt kopulativ. Es gibt Absätze, in denen Josten praktisch kein Verb verwendet, Aufzählungen in Stakato: „… Alles beim Alten. Klio und Paco fort. Auf dem Balkon links Getränkekästen. Rechts ein grauer Blumenkasten mit Krokus. In der Luft Veränderung. …“ Es bleibt dem Leser überlassen, die Sätze im Geist zu vervollständigen, zu entscheiden, ob Klio und Paco fort sind, fort gehen oder wollen, möglicherweise beabsichtigen sie sogar, in einem fort zu reden…. Durch diese Verobjektung des Lebens verdeutlicht sich die innere Beziehungslosigkeit, in der Helen ihr Umwelt wahrnimmt. Sie sieht den Blumenkasten und in diesem Krokusse. Was diese „machen“ (am Geländer hängen, auf dem Boden stehen, blühen, riechen, wachsen, verkümmern, etwas verschönern..) interessiert sie nicht, ist ihr nicht wichtig.

Im letzten Drittel des Romans wird die Sprache dann glatter, harmonischer, geht mehr ins Erzählerische. Dem Lesefluss kommt dies zugute, es kann auch als Zeichen genommen werden, daß unsere Heldin Veränderungen erlebt. Und so endet der Roman mit einem „Monate später“-Abschnitt, der unsere gesundete Heldin zeigt, die ihre Fesseln abgelegt hat und die bereit ist, die Möglichkeiten, die sich ihr bieten, auszuschöpfen.

Facit: Josten schildert in ihrem nachdenklich stimmenden Buch, wie sich seelische Wunden und mit welchen Folgen über Generationen hinweg fortpflanzen können. Der Text verlangt nach Aufmerksamkeit, aber er belohnt diese auch reich!

Links und Anmerkungen:

[1] Ein Interview mit der Autoren bei koelner.de
[2] Eine kurze Autorenlesung aus dem Buch bei video.zeit
[3] ein paar Ungereimtheiten sind mir im Text aufgefallen, die ich aber ausdrücklich keinesfalls auf die Qualität angerechnet sehen möchte. Vllt liegt es ja auch an mir, daß ich etwas falsch verstanden habe…. Die genannte Jahrszahl läßt sich erschließen, wenn man die zitierten Überschriften von S. 107 ergoogelt. Etwas verwirrend ist, daß eine Zeitung, die diese drei Überschriften enthält, am 16. Februar erschienen sein müsste, die Handlung aber im explizit im März angesiedelt ist. Und eine alte Zeitung ist angesichts der Art von Sozialkontakten, die Herrn Nienhaus pflegt, unwahrscheinlich… die Geschichte spielt im März des Jahres, (also im kalendarischen Winter), an anderer Stelle ist dagegen ist von „frühlingskaltem“ Wasser die Rede…. auch beschäftigt mich die Frage, welche deutsche Stadt sowohl ein Patentamt beherbergt (München, Jena, Berlin), als auch einen nennenswerten Hafen mit Hafenleuten und in der Umgebung noch Weinanbau….

(Bei dem besprochenen Buch handelt es sich um ein Rezensionsexemplar des Verlages.)

5 Kommentare zu „Husch Josten: In Sachen Joseph

  1. Tja, die Klappentexte, das ist so eine Sache für sich. Da schreibt man rein, wovon man denkt, dass es potentielle Leser „anmacht“, wenn sie das noch eingeschweißte Buch in der Buchhandlung herumdrehen. Da gibt es eben bestimmte Wörter, die zum Repertoire gehören – und nicht immer stimmen müssen.

    Aber zu deinem Einwand, Liebe und Freundschaft seien hier fehl am Platze, ein Zitat aus dem Interview mit der Koelner:
    „Es ist die Geschichte einer sehr ungewöhnlichen, zeitweise lebenswichtigen Freundschaft, die die Beteiligten in jeder Hinsicht zu Stellungnahmen zwingt.“ Das sagte die Autorin. Hier nachzulesen: http://www.koelner.de/interviews/interviews/3791/

    Damit sei keineswegs gesagt, dass deine Kritik am Klappentext falsch sei. Schließlich sind Rezensionen das Subjektivste, was es gibt – und so soll es auch sein. Aber vielleicht kannst du deinen Eindruck noch verdeutlichen?

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    1. lieber till, danke für deinen kommentar, der mich bittet, meine anmerkung hinsichtlicher der einschätzung „liebe, freundschaft: ja oder nein“ zu präzisieren. das interview mit frau josten und ihre aussage kenne ich natürlich (ich habe es in einer der anmerkungen ja verlinkt) und in der tat habe ich mir überlegt, ob ich der autorin, die ja am besten weiß, was sie schreiben, sagen wollte, einfach widersprechen kann.

      freundschaft ist eine der wesentlichen zwischenmenschlichen beziehungsmöglichkeiten. demzufolge haben sich spätestens seit aristoteles auch eine vielzahl von philosphen u.a. mit der definition, der begriffsbestimmung etc. pp des begriffs befasst. aber egal, zu welchen ergebnissen diese auch gekommen sind, ein charakteristikum ist (meiner kurzrecherche nach, mit der ich mein intuitives gefühl untermauern wollte) allen zu eigen: es ist eine beziehung zwischen zwei menschen, die freiwillig ist und auf gegenseitigkeit beruht (ich lehne mich hier an die ausführungen in dieser diplomarbeit an). und das ist der punkt, denn genau das (ohne spoilen zu wollen) ist hier nicht der fall, soweit man die beziehung zu joseph betrachtet, die ja im mittelpunkt der geschichte steht. und deswegen erzählt der roman für mich die (kranken)geschichte eines in kindheit und/oder jugend schwer traumatisierten mädchens, die schon lange einer behandlung bedurft hätte. zu einer hilfskonstruktion, die der psyche halt geben soll, freundschaft oder liebe zu empfinden, geht nicht im sinne einer definition bzw. ist kein normales, d.h. ist ein „krank“haftes verhalten. insbesondere, wenn es, wie hier bei helen, ja das gesamte sozialleben dominiert. das jetzt, sozusagen auf den letzten drücker, bevor die seele (und das empfindet helen ja sehr genau) endgültig krank wird, selbstheilungskräfte tätig werden, die dem ganzen ein ende bereiten, ist helens glück, zumindest hier im roman.

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