Elisabeth Zöller: Anton oder die Zeit des unwerten Lebens

In ihrem Buch „Anton“ erzählt die Autorin ein Stück ihrer eigenen Familiengeschichte, nämlich die ihres Onkels Anton und seiner Familie während der 12jährigen Dauer des Tausendjährigen Reichs.

Anton war ein ganz normaler, aufgeweckter Junge, bevor er einen Unfall hatte. Er wurde von einer Straßenbahn angefahren und erlitt dadurch Hirnverletzungen, die sich auf sein Sprachvermögen auswirkten und die Motorik besonders der rechten Hand, der Hand also, mit der der deutsche Junge schreibt, beeinträchtigte. Durch den Unfall hat der kleine Anton sein „Ich“ verloren, niemals wieder wird er von sich als „ich“ reden, sondern immer nur von „Anton“.

Diese Behinderung macht Anton zum Aussenseiter, nicht nur faktisch, sondern auch – und das was sehr viel schlimmer – politisch gewollt. Die Überlegenheit der nordischen Rasse musste gewahrt bleiben in der Ideologie des damaligen Deutschlands, in dem Rassenkunde schon in den Schulen abgefragt wurde. Alles, was störte, musste weg. In erster Linie wurde die Juden vertrieben, deportiert und ermordet (ebenso wie Sinti und Roma und viele andere Menschen mit unerwünschten Eigenschaften oder Ansichten). Und auch Behinderte fallen unter diesen Fokus. So ist für Antons Eltern die Frage, ob sie ihren Anton in die Schule schicken können, nur sehr schwer zu entscheiden. Einerseits ist Anton mathematisch sehr begabt, auch malt er gerne und gut, andererseits…. Aber Onkel Franz, der an der Schule Lehrer ist, verspricht, auf Anton aufzupassen. Trotz dieses Schutzes hat es Anton nicht leicht, denn natürlich darf sich auch Onkel Franz nicht zu auffällig verhalten, sind doch einige der Kollegen stramm auf den Führer eingeschworen. Gepiesackt und schikaniert wird Anton sowohl von einigen Lehrern als auch von Mitschülern, viele der Kinder bekommen sogar verboten, mit so einem Krüppel zu spielen….

Es gibt Gerüchte. Behinderte Kinder sollen in Heime kommen, angeblich, weil man sich dort besser um sie kümmern kann. Doch seltsamerweise bekommen sie dort oft sehr schnell eine Infektion, an der sie sterben… Die berühmte und mutige Predigt des Bischofs Galen prangiert dieses geheime Euthanasieprogramm der Nazis in aller Öffentlichkeit an, die Rede findet Verbreitung und schürt weitere Ängste in der Bevölkerung.

Die Kinder werden früh über die „Pimpfe“ (ab 10) bzw. ab 14 Jahre über die HJ (bzw. den BDM) indoktriniert, selbstverständlich kann Anton hier nicht mitmachen, im Gegenteil werden die Schikanen der Gleichaltrigen um so schlimmer, je mehr ihnen in diesen Organisationen die des deutschen Mannes unwürdigen Eigenschaften wie Mitleid oder Rücksichtnahme ausgetrieben werden. Mehr als einmal kommt Anton blutüberströmt nach Hause und zieht sich dort zurück, malt graue Gesichter oder versteckt sich im Schrank.

Die Familie erlebt die Reichsprogramnacht mit, das gegenüberliegende Kolonialwarengeschäft wird geplündert und zerstört, Herr Freundlich, der Händler, im Schlafanzug auf die Straße geprügelt. Die Synagoge brennt, überall Glas und Scherben und gelbe Sterne und hasserfüllte Parolen. Manche helfen, still und heimlich, unter großer Angst. Gewähren Unterschlupf für ein, zwei Nächte, geben Essen… bald sieht man keine Juden mehr und die Sorge wächst, daß jetzt die Behinderten drankommen.

Irgendwann geht es nicht mehr, die Eltern lassen ihren Sohn nicht mehr zur Schule gehen und verstecken ihn zu Hause. Man stelle sich vor, welche Angst dieses Kind erlitten haben muss, wenn es allein, nur mit seinem Teddy, im Kohlenkeller versteckt, die katastrophalen Bombenangriffe auf Münster aushalten musste…, denn unwertes Leben in einen Luftschutzkeller mitzunehmen, war unmöglich geworden.

Wohin kann man Anton in Sicherheit bringen? Die Eltern finden Verwandte, bei denen sie es versuchen wollen und sie finden Menschen, die ihnen dabei helfen, heimlich und ohne große Worte.

Anton überlebt den Krieg.

Zöllers Buch ist ein sehr trauriges Buch, trotz des „Happy Ends“. Es reißt im Grunde sehr, sehr viele Themen an, die die nationalsozialistische Herrschaft charakterisieren, wenn man das Buch gelesen hat, hat man sehr viele Stichpunkte, an denen man nachhaken kann (und, wenn man es bei/mit jungen Menschen liest, nachhaken muss). Vor allem aber gibt es die Atmosphäre der Angst, der Unterdrückung wieder, in der viele Menschen damals lebten. Verdunkelte Zimmer, das Abhören verbotener Feindsender (Todesstrafe!), die Selbstzensur, was man sagen darf, was nicht…. das Weggucken, wenn man Unmenschliches sah, die Angst, die Todesnachricht zu bekommen vom Sohn/Vater/Mann, der an irgendeiner Front kämpfen musste und von dem man seit Monaten nichts mehr gehört hat, der Hunger, der Mangel, die Bombennächte in den Städten, die inszenierten Jubelveranstaltungen….

Facit: ein sehr anrührendes Menschenschicksal, das in kind- und jugendgerechter Sprache einen Einblick gibt in das Deutschland Hitlers.

Elisabeth Zöller
Anton
oder die Zeit des unwerten Lebens
Fischer Schatzinsel (Fischer TB), HC, 2004, 224 S.

4 Kommentare zu „Elisabeth Zöller: Anton oder die Zeit des unwerten Lebens

    1. du hast recht, das ist die immer wieder auftauchende frage/anmerkung, ob es nicht irgendwann einmal genug ist, man das ganze nicht einfach mal ruhen lassen soll und vergessen. nein, soll man nicht. ich habe gerade gestern bei mir im regal ein buch eines griechen (wieder)gefunden, der im regime der obristen ins gefängnis geschmissen und dort gefoltert wurde und dies im stil einer reportage beschreibt. da habe ich mir selbst diese frage auch gestellt und wieder mit nein beantwortet, man muss sich einfach immer wieder daran erinnern, daß terror und willkür nie weit weg sind und überall zu tage treten können und ein aktives handeln eigentlich von jedem erfordern, um sie zu vermeiden.

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