Mikael Niemi: Populärmusik aus Vittula

Das Tornedal in Nordschweden, in naher Nachbarschaft zu Finnland, mitten im Wodkagürtel gelegen, ist wahrlich eine Randlage, die ihre ureigenen Blüten und Verhaltensweisen hervorbringt. Hier pulst kein Leben, hier geht die Entwicklung anderer Regionen weitgehend unbemerkt vorbei, kräftig gefördert vom Eigensinn der Einheimischen. In dieser Umgebung ist Niemi groß geworden und er beschreibt hier die Erlebnisse seiner Kindheit in den 60er Jahren und der sprießenden, ersten Pubertät unter den Bedingungen der Vermeidung von knapsu

Es ist keine chronologische Biographie nach Jahreszahlen geordnet, Niemi schildert in 20 Kapiteln exemplarisch Episoden aus dem Leben der Heranwachsenden (und auch schon Erwachsenen). Es geht um Hochzeiten und Beerdigungen, um Testamentseröffnungen und Geburtstage, um Saufwettbewerbe und um Rock´n´Roll, denn der bricht eines Tages in Form einer Schallplatte über den Erzähler herein.

Sprache, das ist eins der großen Themen, die Niemi (wie auch dann wieder in seinem Buch, über den Mann, der wie ein Lachs starb) hier aufgreift. Sprache schafft Identität und prägt die Menschen und hier liegt für Niemi einer der Gründe für die Zerissenheit der Menschen in dieser Region zwischen Schweden und Finnland:

Wir im Norden haben uns aber deswegen [Niemi bezieht sich darauf, daß das wirtschaftliche, kulturelle und politische Zentrum im Süden des Landes liegt] immer sehr ausgeschlossen gefühlt. Das ist sehr traumatisch für die eigene Identität. Als Autor gehört die Frage nach der Identität zu den großen Fragen. Darauf gibt es viele verschiedene Antworten, wie es auch viele Minderheiten auf der Welt gibt, aber was uns im Tornedal von anderen Minderheiten unterscheidet, ist, dass sich bei uns nicht nur zwei Sprachen, sondern auch zwei Völker treffen. Bei uns trifft die indoeuropäische Kultur auf die finnisch-ugrische Kultur und Sprache. Das Finnische hat außer dem Ungarischen keine anderen Verwandten mehr, während die skandinavischen Sprachen germanische Sprachen sind und viele Verwandte haben. Das bringt mich zu der Frage, ob man das in uns merkt, und ich glaube ja! [1]

Sprache, das ist im Tornedal auch in weiten Teilen auch Sprachlosigkeit. Sein Erzähler kommt zum ersten Mal in das Haus seines etwas seltsamen Freundes Niilas:

Obwohl ihr Haus voller Kinder war, herrschte darin eine traurige, kirchenähnliche Stille. …. Es war unglaublich, daß soviele Kinder so stille sein konnten. … spielten die Kinder, stumm wie die Fische. … Die Eltern öffneten ihren Mund nur zum essen, sonst genügte ein Nicken, und dabei zeigten sie auf das, was sie wollten, und die Kinder gehorchten. …“ [S. 27]

Eine andere Stelle, die dies bezeugt:

.. Die Hochzeit [eines Onkels] fand im Sommer, mitten während der Ferien, statt und das Rauchstubenhaus der Eltern füllte sich mit Verwandten. … Eine Mauer schweigender Männer, Schulter an Schulter, wie ein Felsblock, und dazwischen ab und zu eine ihrer hübschen Frauen aus Finnland wie Blumen an einer Felswand. Wie üblich in unserer Familie wurde kein Wort gesagt. Man wartete auf das Essen. …“ [S. 136]

Erst, nachdem mehrmals die „Reliquien“ herumgereicht wurden (i.e. die Flaschen mit Höchstprozentigem), lockerten sich die Zungen, um irgendwann dann wieder dick und losgelöst von der Erdenschwere im Mund herumwabernd erneut in eine (erzwungene) Schweigsamkeit zu verfallen. Gesichtslähmung, so mag man das wohl nennen……..

Ja, der Alkohol… Niemi schildert einen der Wettkämpfe unter den Jugendlichen der einzelnen Stadtviertel von Pajala, mit dem ermittelt werden sollte, wer am meisten verträgt… ich beschränke mich auf die Erwähnung der Tatsache, daß auf das lästige Destillieren verzichtet wurde, nur Weicheier würden die angesetzte Wettkampfmaische nicht vertragen…..

Es ist traurig in der Sache, aber Niemi schildert das alles so, daß man einfach spontan in Gelächter ausbricht… Alkoholvergiftung zählt (zumindest dem Buch nach) zu den finnischen Heldentoden, die man sterben kann… neben Selbstmord, Krieg und Herzinfarkt in der Sauna [S. 297]…

Das Leben im Tornedal ist geprägt vom Klima, der (fehlenden) Sonne, von Arbeit, von Gewalt und von Langeweile. Eigenbrötler sind es, die das Tal hervorgebracht hat, Menschen ohne große (Aus)Bildung, die in unsichtbaren sozialen Netzen von Freund- und Feindschaft leben und das Leben überhaupt im Grunde als Kampf ansehen. Ob in der Schule, auf der Straße, zwischen den Stadtvierteln: es gibt Gruppen, Gangs, die halten zusammen und bekämpfen die anderen. Die Spiele sind rau, mit Luftgewehren wird aufeinander geschossen („Luftgewehrkrieg“), es wird sich geprügelt, gewürgt, gemobbt und was weiß ich noch alles…

… und dann bricht eines Tages die moderne Zeit in Form einer Rock´n´roll-Schallplatte über den Erzähler und seinen Freund Niila herein. Sie hören sie heimlich auf dem Plattenspieler der Schwester, die ihnen, als sie dies merkt, tausend gräßliche Tode schwört und dann, als sie die Platte hört, einfach dahinschmilzt. Das Leben ist nicht mehr wie es war für die Jungs. Das Leben hat einen Sinn, welchen, könnten sie nicht sagen, aber es hat einen. Die Schilderungen von Niemi, wie die Jungs üben, schließlich zu viert eine Band gründen und spielen, meist schon jenseits der absoluten Grenze zum Wahn, ist einfach köstlich. Schon lange nicht mehr so gelacht. Also wirklich, Niemi, garnicht so schlecht, wie du das beschrieben hast!

Das Tornedal muss die Region der Extreme sein: Extrem-Fressen, Extrem-Saufen, Extrem-Arbeiten, Extrem-Sauna… herrlich beschrieben, ich musste zeitweise das Buch weglegen vor lachen. Und dabei verwendet Niemi zum Teil sehr schöne Sprachbilder, bei aller Derbheit der Ausdrücke, die er durchaus auch nutzt.

Facit: ein wunderschönes, ein wenig melancholisches und auch sentimentales Buch über eine raue Landschaft mit rauen Menschen, das einen trotz des Lachens auch ein wenig traurig werden läßt……

Links:

[1] Interview mit dem Autoren

Mikael Niemi
Populärmusik aus Vittula
btb, 2007, Tb, 304 S.
ISBN-10: 3442731720
ISBN-13: 978-3442731725

5 Kommentare zu „Mikael Niemi: Populärmusik aus Vittula

  1. Das Buch ist wirklich schön, aber „Der Mann, der wie ein Lachs starb“ fand ich nicht so doll… Dafür war aber „Das Loch in der Schwarte“ umso besser:
    „Wieviele Rettungskapseln haben wir an Bord?“
    „Keine.“
    „Hast du sie gezählt?“
    „Ja, zwei mal.“
    :lol:

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    1. .. tja, es ist halt nicht immer so einfach, wie es aussieht… hinter die Dinge schauen, darauf kommt es doch an!

      mal schauen, vllt besorg ich mir das schwartenloch noch, bin gestern auch drauf gestoßen…

      der lachs: doch, seinerzeit hatte er mir ganz gut gefallen. er ist natürlich nicht so aus dem prallen leben gegriffen wie das Episoden aus dem „****moor….“.

      danke für deinen kommentar!
      lg
      fs

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