Richard Brautigan: Die Abtreibung

Eine Zeitreise.. verglichen mit den Büchern, die ich die letzte Zeit so gelesen habe, etwas völlig anderes. Es wurde 1966 geschrieben, Brautigan bezeichnet es „Historische Romanze“, und so klingt es auch: romantisch, naiv, wie durch einen Blumenteppich gesiebt.

Um was geht es? Der Titel sagt es deutlich: Um eine Abtreibung. Der Ich-Erzähler arbeitet in San Francisco in einer Bibliothek der besonderen Art: Jeder, der ein Buch geschrieben hat, kann es dort hinbringen, es wird katalogisiert und dann darf der Autor es an einen selbstgewählten Platz stellen. Denn, „… Es kommt überhaupt nicht drauf an, wo ein Buch steht, weil nie jemand ein Buch heraussucht und nie jemand zum Lesen kommt. So eine Bibliothek ist das .. nicht. Dies ist eine ganz andere Bibliothek.„. [1] Und in dieser ganz anderen Bibliothek ist der Ich-Erzähler der Bibliothekar, dem die Menschen, die die Bücher zu ihm bringen, genauso wichtig ist wie die Bücher selbst. Nie verläßt er seine Bibliothek, Nahrungsmittel werden ihm unregelmäßig von einem zweiten Mitarbeiter gebracht, die Außenwelt kennt er nur noch aus dem Blick durch die Eingangstür und die Fenster.

Eines Tages kommt eine junge Frau von himmlischer Schönheit, einer Schönheit derart, daß sie zu Staus auf den Freeways führt wenn Männer sie sehen, zu ihm, ihm ein Buch zu bringen, in dem sie von ihrem Unglück erzählt, denn diese Schönheit, meint sie, gehöre nicht zu ihr, sei ihr eine unerträgliche Last. Sie fühlt sich wohl in der Bibliothek, fühlt sich verstanden vom Bibliothekar und bleibt bei ihm.

Sie wird schwanger und der Freund des Bibliothekars vermittelt sie an einen mexikanischen Arzt, der das Kind, für das sich beide noch nicht reif fühlen, abtreiben wird. Sie fahren dorthin, schweren Herzens, dem Bibliothekar ist die Welt fremd geworden, sie ist laut, schnell, hektisch, sie kennt keine Rücksicht mehr.

Doch der Rückweg in die Bibliothek ist ihnen versperrt. Obwohl sie nur einen Tag abwesend waren, ist der Platz am Empfang von einem anderen eingenommen worden, der sie bei ihrer Rückkehr vertreibt und in die Außenwelt zurück schickt.

Ich habe bei dieser Geschichte unwillkürlich an die biblische Schilderung der Vertreibung aus dem Paradies denken müssen (vielleicht weil die Lektüre von Belli: Unendlichkeit…. noch nicht so lange zurück liegt. Das Paradies ist hier die Bibliothek, die ihre Bewohner vor dem Außen schützt, aber mit Vida, dieser engelsgleichen schönen Frau kommt die Verführung und diese zieht nach sich, daß die beiden die Bibliothek, i.e. also das Paradies, verlassen müssen und ihnen die Rückkehr versperrt bleibt. Nun leben sie also in der „richtigen“ Welt und müssen sich da wieder zurecht finden, was sie auch schaffen. Ein klein wenig gelingt es ihnen, sich von der Unschuld zu bewahren, die sie in der Bibliothek hatten, und so scheint es, als ob sie auch in dieser Welt glücklich werden können.

Natürlich kann man die Geschichte auch viel handfester interpretieren, als Kritik am „American Way of Life“, als Verweigerung, diesen einfach nachzuleben und als Suche nach einem Ort, der einem mehr geben kann als nur Geld und Erfolg…. Vida und der Erzähler verweigern der Gesellschaft sogar das Kind, das Vida unter dem Herzen trägt, als ob sie sich noch nicht reif genug fühlten dafür, das Kind vor dieser Gesellschaft zu schützen.

An ein zweites Buch erinnert mich die Geschichte bzw. die Bibliothek, in der der Erzähler arbeitet, nämlich an den Friedhof der vergessenen Bücher von Zafon. Auch dies ein seltsamer Ort, an dem Bücher gesammelt werden, die keiner mehr kennt, die keiner lesen will, die ansonsten keine Heimstatt haben. Es würde mich mal interessieren, inwieweit Zafon Brautigans Idee von so einer Bibliothek gekannt hat….

Und eine Liebesgeschichte ist das Buch auch, eine großartige sogar, denn diese zwei Menschen haben sich gefunden und gehen durch diese Welt, die ihnen fortan einfach nichts mehr anhaben kann. Weder die Abtreibung noch die Flugangst, nicht das laute und agressive Straßenleben in Mexiko oder die Vertreibung aus ihrem Paradies kann sie erschüttern, alles scheint klein und nichtig gegen ihre eigene Geborgenheit und Welt.

Anmerkungen: [1] Gerade habe ich den netten Gedanken gefunden, mit diese Skizze hätte Brautigan irgendwie schon die Grundstruktur des Internets skizziert: jeder schreibe was er wolle und stelle es dorthin, wo er will… http://www.brautigan.de/drb6.htm. Die Verbindung von beidem, die Virtuelle Brautigan Bibliothek im Internet, scheint jedoch nicht zu funktionieren….

Links:

http://www.amazon.de/Abtreibung-Eine-historische-Romanze-1966/dp/3936054061

http://www.brautigan.net/abortion.html

Facit: Als Buch wunderschön, zumindest in der alten Eichborn-Ausgabe, die ich habe. Und auch eine schöne Romanze und daß mir die Idee mit der Bibliothek gefällt, versteht sich von selbst…

Richard Brautigan
Die Abtreibung
Eine historische Romanze
Eichborn, 1985, 206 S.
ISBN 3-8218-0150-6

es gibt aber mittlerweile Neuauflagen des Buches…

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