Orhan Pamuk: Istanbul

istanbul

Vor einigen Wochen begann ich diese „Erinnerungen an eine Stadt“ (so der Untertitel) von Pamuk zu lesen und habe seinerzeit ein wenig aus meiner eigenen Erinnerung über meine Zeit in Istanbul erzählt. Heute habe ich nun das Buch selbst fertig gelesen, aus der Zeit, die mittlerweile vergangen ist, kann man ersehen, daß das Buch sich nicht unbedingt wie ein Thriller liest. Aber das soll es ja auch nicht, es sind Erinnerungen des Autors an sich, seine Kindheit, seine Jugend, die er allesamt in seiner Stadt, seinem Istanbul verbracht hat, die Stadt, in der er noch heute lebt.

Den Inhalt des Buches zu beschreiben ist müßig. Er behandelt praktisch die gesamte Geschichte und Entwicklung der Stadt, besonders die kritische Übergangszeit Istanbuls nach dem Ende des osmanischen Reiches, da die Stadt seit dieser Zeit im Zwiespalt lebt zwischen Orient und Okzident. Die westlichen Einflüsse auf die Bewohner nehmen zu und zeigen eine (vorgebliche) Unterlegenheit des Ursprünglichen. „Hüzün“ nennt Pamuk dieses Gefühl, eine Art kollektiver Melancholie, Tristesse, Depremation und Niedergeschlagenheit der Einwohner Istanbuls, die sich als dämpfendes, sich unterlegen fühlendes Lebensgefühl über die Stadt legt:

„Wie alt hier alles ist! Nicht alt, altehrwürdig, antik oder altmodisch, nur veraltet!“ so zitiert Pamuk Joseph Brodsky (1985 [1]). … „Er hatte recht. Da das Osmanische Reich zusammengebrochen war und die Türkische Republik ausser ihrem Türkentum, das sie nicht recht zu definieren wusste, kaum mehr etwas anderes wahrnahm und sich somit von der Welt abkapselte, ging es mit der Vielsprachigkeit und den glorreichen alten Tagen dahin und Istanbul verkam zu einem langsam vor sich hin alternden, verödenden, schwarzweißen, monotonen und einsprachigen Ort.“ (S. 276)… „So habe ich denn auch Istanbul in meiner Kindheit nicht als große Weltstadt, sonders als großflächige, heruntergekommene Provinz erlebt. “ (S. 282)

So schildert der Autor nicht nur seine umfangreichen Studien zur Geschichte der Stadt in allen möglichen Archiven und Reiseberichten, auch seine eigenen Erfahrungen zeigen das Leben in Istanbul von seiner Alltagsseite. Pamuk wächst in einer Familie auf, der Wohlstand durch die Unternehmungen des Vaters stetig gemindert wird, Religion spielt keine große Rolle, das Leben wird nach westlichen Massstäben eingerichtet. Auch seine eigenes Leben, Aufwachsen schildert Pamuk in teilweise recht intimen Details, ob man als Leser jetzt alles so genau über „Bibi“ wissen will, ist natürlich eine andere Frage, aber ich vermute mal, dass Pamuk dieses Buch im wesentlichen für sich selbst geschrieben hat, wider das Vergessen, als Zusammenfassung und Exzerpt seiner eigenen Studien über Istanbul und das stetige Wechselspiel, das ihn zusammen mit dieser Stadt hat sich entwickeln lassen.

Es ist ein langwierig zu lesendes Buch, das sich in vielen Details verliert, mit vielen, meist unbekannten Namen, die man liest und wieder vergisst. Andererseits enthüllt es, gerade wenn man Istanbul vielleicht sogar etwas kennt, viele Detail und Fakten, die man in seinen eigenen kurzen Besuchen natürlich nicht kennenlernen kann. Bei manchen Buchpassagen meint man, mit dem Autor durch die engen Gassen alter Viertel zu gehen, den alten Häusern auf die windschiefen Wände zu schauen, im Hintergrund den Bosporus und Asien am Horizont zu erahnen. Man riecht die dunstige Wärme förmlich, voller Aromen nach Früchten und Verderbnis, nach Verlockung und Unrat. Alles ist zu finden hier in dieser Stadt und läßt man sich als Leser auf die langatmigen Schilderungen ein, kann man es sogar beim Lesen ahnen….

Facit: ein sehr gemächliches, ins Detail gehendes Buch über Istanbul, geschrieben von einem Istanbuler, der seine Liebe zur Stadt nicht verheimlicht. Ach ja, das Buch gibt einige sehr schöne alte Fotos aus Istanbul wieder.

Links:

[1] zu Joseph Brodsky

Orhan Pamuk
Istanbul
Fischer TB, Oktober 2008, 432 S.
ISBN-10: 3596177677
ISBN-13: 978-3596177677

3 Kommentare zu „Orhan Pamuk: Istanbul

  1. Na ja, aus meiner Besprechung wirst du auch herausgelesen haben, daß ich das Buch mit vielen Pausen gelesen habe. Es ist in der Tat sehr detailliert, aber ich gebe zu, daß ich Passagen, in denen erläutert wurde, welcher Istanbuler Autor sich im Gegensatz zu einem anderen Istanbuler Autoren über welche Details ausgelassen hat, auch einfach mal überflogen und überlesen habe. Für Kenner mag das interessant sein, aber als einfacher Leser…. vergisst man sowieso wieder.

    Sehr aufschlussreich fand ich immer die Stellen, bei denen es um das Verhältnis West/Ost ging, die unterschiedlichen Motivationen, Sichtweisen und Urteile. Da hat mich dann auch der Detailreichtum nicht gestört. Und weil ich Istanbul eben auch ein klitzekleines bischen kenne, hat mich die Schilderungen der Ursachen, wie Istanbul so geworden ist, wie es seinerzeit war, persönlich natürlich interessiert….

    viel spaß am strand!

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  2. Uhhh, ich lese das gerade und finde es sehr sperrig. Es ist halt nicht einfach nur eine „Geschichte“, die erzählt wird. Vermutlich werde ich es wieder weglegen und mir für zwei Wochen Strand vormerken… :-(

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