Doris Lessing: Das fünfte Kind

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Harriet und David sind berufstätig und lernen sich auf einer Betriebsfeier kennen und lieben. Beide nehmen in ihrer alten Umwelt aufgrund ihrer etwas „konventionellen“ Ansichten eine kleine Aussenseiterrolle ein. Sie erkennen aber in sich jeweils den Menschen, den sie zum Glücklichsein brauchen.

Sie heiraten und kaufen ausserhalb Londons ein viel zu großes Haus, das sie mit den vielen Kindern, die sie sich wünschen, mit Leben füllen wollen. Ihre Verwandten betrachten diesen Lebensentwurf mit gemischten Gefühlen, sogar ablehnend. Bald bekommt Harriet ihr erstes Kind, dann ihr zweites, ihr drittes und auch ihr viertes. Unterstützt werden sie in finanzieller Hinsicht vom leiblichen Vater Daniels und die Mutter Harriets verbringt viel Zeit im Haus, um der Familie bei der Arbeit zu helfen.

Mit dieser Unterstützung gelingt es den beiden, eine Art Traum vom idyllischen Familienleben zu erfüllen. In den Ferien, zu den Feiertagen füllt sich das Haus mit Verwandten und auch Bekannten, die sich vor allem um den riesigen Frühstückstisch versammeln, zusammen essen, reden, die Gedanken schweifen lassen. Die vielen Kinder, die im Haus sind, toben entweder im Haus herum oder im Garten. Es ist für alle ein Ort des Friedens, des Glücks und der Harmonie. Selbst die gesellschaftlichen Gegensätze der verschiedenen Familienzweige spielen kaum eine Rolle in ihrem Zusammensein. Zwar trifft der Wunsch von Harriet nach den vielen Kindern bei den meisten der Anwesenden auf Unverständnis, er wird aber letztlich akzeptiert.

Dann wird Harriet wieder schwanger, ungewollt. Diese Schwangerschaft verläuft so ganz anders als die vorherigen, sie empfindet ihre Leibesfrucht als feindlich, sie wird von dem sehr schnell wachsenden Fötus drangsaliert und regelrecht gequält. Er tobt in ihrem Leib, bereitet ihr kaum aushaltbare Schmerzen und läßt sie nie zur Ruhe kommen – sie hasst dieses Wesen da in ihr.

Der Junge, der nach 8 Monaten geboren wird, wird Ben genannt. Er ähnelt mehr einem Troll als einem nomalen Jungen, hat unbändige Kräfte und wehrt sich gegen alles und jeden. Beim Stillen zerbeisst er seine Mutter, er wächst schnell, ist nicht zu bändigen, flößt allen anderen, Menschen und Tieren, Angst ein. Bösartig ist er, erwürgt einen Hund und den Hauskater, greift seinen Bruder Paul an. Letztlich muss er eingeschlossen werden, weil die Familie ihn anders nicht unter Kontrolle bekommen kann. Sehr spät beginnt er zu sprechen, in Drei-Wort-Sätzen, rau und schwerfällig.

Mit Ben bricht das Böse in die Familienidylle von Daniel und Harriet, das Fremde, Andersartige, Bedrohliche. Es widersetzt sich den Versuchen, es zur Anpassung zu zwingen, behält sein Wesen bei und wird zur Gefahr. In seiner Art, seinem Verhalten und seinen Eigenschaften ähnelt es sehr Kevin aus Shrivers Roman: „Wir müssen über Kevin reden„, nur daß Kevin hochintelligent war, im Gegensatz offensichtlich zu Ben, der intellektuell zurückgeblieben erscheint.

Die Frage ist, wie wehrt sich eine Gesellschaft, in die das Böse einbricht? Letztlich hat sie keine andere Möglichkeit, als es zu isolieren, denn im Gegensatz zu den Umgangsregeln, nach denen sich die Mitglieder einer Gesellschaft verhalten, hat das Böse (hier durch Ben symbolisiert) keine Regeln, die es einhält – einhalten könnte oder wollte. Wehrt sich die Gesellschaft nicht, so wird sie langsam zerstört – wie es Lessing auch hier schildert: die Familie zerfällt, zu den Festen tauchen immer mehr Ausreden der Eingeladenen auf, Harriet, David und auch die Kinder entfremden sich in der Furcht vor Ben. Folgerichtig wird Plan B aufgerufen: das Böse wird isoliert, in ein Heim gebracht.

Die Familie gesundet wieder, wird wieder fröhlich, läßt ihr altes Leben aufleben. Doch Harriet läßt das Schicksasl ihres Sohnes keine Ruhe, gegen den Widerstand der Familie fährt sie in das Heim und holt Ben aus völlig unwürdigen Zuständen nach Hause. Dort jedoch wiederholt sich im Grunde alles, was vorher war, Ben und seine reine Anwesenheit zerstört die Familie: die mittlerweile heranwachsenden Geschwister verlassen das Haus, um in Internate oder zu Verwandten zu gehen, nur Paul bleibt noch im Haus, wird jedoch durch den mangelnde Zuwendung seiner Mutter, die sich fast ausschließlich um Ben kümmert (kümmern muss) zum psychisch gestörten Kind. Auch David vergräbt sich immer mehr in Arbeit, ist kaum noch zu Hause. Die Familie, wie sie früher mal war, ist nicht mehr existent.

Durch Zufall findet Ben Anschluss an einen Jungen, der den Garten der Familie pflegen soll. Dies ist auch ein Aussenseiter, der einen Ton findet, mit dem Ben zurechtkommt. In ihrer Not engagiert Harriet diesen John als „Baby“sitter für Ben und Ben scheint glücklich zu sein in der Clique von John, die ihn zwar unumwunden als Gremlin und Irren tituliert, aber auch akzeptiert. Dort hat er seine Position, seine Rolle und seine Gemeinschaft gefunden. Dieses Schema setzt sich dann auf der Hauptschule, die Ben notgedrungen aufnehmen muss, fort: dort ist Ben dann offensichtlich sogar Mittelpunkt einer sich entwickelnden Gang, einer Gruppe von mehr oder weniger intelligenten Schulschwänzern, die bei Harriet, die mittlerweile fast alleine in dem riesigen Haus lebt, des öfteren Zwischenstation macht, den Kühlschrank plündert und TV glotzt. Für Harriet sind sie auch diejenigen, die für die kleineren Überfälle, Gewalttaten und Vergewaltigungen, die in der Umgebung passieren, verantwortlich sind. In dieser Situation endet das Buch dann recht plötzlich und läßt alles weitere offen…

Das Buch ist gut geschrieben, sehr gut lesbar. War Kevin die (zum Teil sehr quälende) Innenschau dieses „Bösen“, das in die Welt einbricht, ist das Fünfte Kind eher eine von aussen geschilderte Geschichte. Sie ist damit nicht so intensiv, so anstrengend zu lesen, da immer ein Abstand zu den Protagonisten bleibt. Was mich ein wenig gestört hat, sind die Versuche der Autorin, der Erscheinung „Ben“ eine Art Erklärung zu geben, in dem man sie als eine genetische „Rückbesinnung“ auf Wesen deutete, die früher auf der Welt lebten …. das ist ein wenig arg weit hergeholt, Trolle, Gnome oder Neandertaler zu bemühen und auch die Klinik, in die Ben abgeschoben wird, als Sammelort für alle Monstrositäten zu beschreiben: unglaubwürdig, unnötig auch, denn ohne diese Erklärung wäre Ben ein schönes Bild für das Böse in uns, das irgendwo in jedem von uns lebt und haust und wartet, daß es freigelassen wird und nach aussen dringen kann. Ein Bild für die Selbstzerstörungskräfte auch, die uns manchmal packen und dazu treiben, Dinge zu tun, von denen wir wissen, daß sie nicht gut sind…..

Facit: Lesenswerte Parabel auf die Bedrohung des Guten durch das Fremde, Böse.

Doris Lessing
Das fünfte Kind
btb Verlag, 2007, 219 S.
ISBN-10: 3442720753
ISBN-13: 978-3442720750

6 Kommentare zu „Doris Lessing: Das fünfte Kind

  1. Gut, da gebe ich dir recht, diese Schilderung, wie Ben behandelt worden ist, ist grausam. Und für die Mutter ganz schrecklich anzusehen – und zu wissen, daß sie ein Kind auf die Welt gebracht hat, für das diese Behandlung offensichtlich notwendig ist. Sie greift ja später indirekt durch ihre Drohungen auch auf diese Methoden zurück… (Schon die Androhung von Folter ist als Folter zu werten….). Im Grunde opfert sie alles für Ben, ihr Leben, ihre Familie und kann ihn trotzdem nicht retten, zumindest nicht für sich gewinnen. Das muss eine Mutter zerreissen….

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  2. So, jetzt musste ich die Szene noch mal lesen ;). Meinst du die Beschreibung der anderen Kinder? Die find ich auch übertrieben. Ich meine eigentlich speziell Ben, wie er da in dem Zimmer liegt, die Zwangsjacke etc. Und die Tatsache, dass eine Mutter sieht, was mit ihrem Kind gemacht wurde, wozu sie, wenn auch indirekt, zugestimmt hat. Und dann ihre Entscheidung, ihn – trotz allem – da rauszuholen.

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  3. @Sternenwanderer: Oates: bestellt, aber noch nicht abgeholt….. Danke für den Tip!

    @Eva: ja, das war eine schlimme Szene. Vernunft und Gefühl prallen aufeinander, es ist ein Trip wie in Dantes Hölle…. ein Horrorszenario, eine Anstalt mit zombieartigen Wärtern, außerhalb der Gesellschaft. Aber mir erscheint es etwas zu übertrieben.. zu bildhaft auch die Beschreibungen, ähnlich, wie ich es weiter unten im Text bzgl. der Interpretation „Gnome, Trolle“ angemerkt habe. Meiner Meinung nach wäre hier weniger mehr gewesen…

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  4. Das ging ja schnell mit dem Buch!

    Ganz schlimm fand ich die Szene, in der Harriet Ben aus der Klinik holt. Das hat mir so weh getan, dieses Kind in solchen Umständen zu wissen, nur weil es anders ist und die Menschen nicht mit ihm umgehen können… daran erinnere ich mich noch gut, da war ich extrem betroffen und fassungslos und konnte erstmal gar nicht weiterlesen.

    @ Sternenwanderer: Deine Empfehlung klingt toll und ist auch gleich auf der Wunschliste gelandet – danke dafür!

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  5. Darf ich da ein Buch empfehlen? Ich war hin- und hergerissen bei der Lektüre von Joyce Carol Oates‘ Roman „Zombie“, was die Geschichte betraf – zwischen Ekel und Selbstoffenbarung, dass man als Mensch Probleme hat mit dem einzigen, wahren, für mich nicht existierenden Bösen konfrontiert zu werden, aber dennoch lohnt eine Lektüre, zumal es thematisch zum vorgestellten Buch sowie zu „We need to talk about Kevin“ passt:

    Klickst du hier!

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