Martin Walser: Ein fliehendes Pferd

gaul

Wenn ich aus meiner Schulzeit heraus Dinge bedaure, gehört auf jeden Fall dazu, daß der Deutsch-Unterricht seinerzeit nicht in der Lage war, uns die Möglichkeit zu vermitteln, die Literatur einem Leser bietet. Deutschunterricht, die Lektüre von Büchern war einfach langweilig, zu nichts nutze…. einzig einer der Lehrer vermochte es damals, aber leider nur kurzfristig, eine Art Freude in uns zu wecken.. ansonsten haben wir anstatt zu lesen aus den herausgerissenen Blättern der Bücher Girlanden geflochten….

So ist es nicht verwunderlich, daß mir der Zugang zu anspruchsvollerer, ernsterer Literatur gerade auch aus dem deutschen Sprachraum, immer noch schwer fällt. Auch die Walser-Novelle „Ein fliehendes Pferd“ steht seit langem ungelesen im Regal, wahrscheinlich habe ich sie irgendwann mal erstanden mit dem festen Vorsatz: die ist nicht so dick und die liest du dann mal, um wenigstens etwas von Walser gelesen zu haben. Nun ja, mit diesem Vorsatz stand sie lange gut…

Die Geschichte, die erzählt wird, ist einfach: Nach vielen Jahren treffen sich zwei alte Schulkameraden in den Ferien wieder. Unterschiedlicher wie die beiden könnten zwei Menschen kaum sein. Helmut Halm, mittlerweile Oberstudienrat, ist introvertiert, missmutig, zurückgezogen, phlegmatisch, scheu, verschlossen, passiv, unsicher. Sein Streben ist es, sein „Ich“ vor der Aussenwelt zu verbergen, die Aussenwelt zu täuschen, am besten, aus ihr zu verschwinden. Symptomatisch besteht sein Urlaubsplan einzig darin, 5 Bände Kierkegaard zu lesen. Seit 11 Jahren fährt er mit seiner Frau Sabine in die selbe Ferienwohnung an den Bodensee, seit dieser Zeit hat er mit den Vermietern kaum Kontakt aufgenommen, daß er die Gitter vor den Fenstern der Ferienwohnung liebt, kennzeichnet seine Eingeschlossenheit in sich selbst gut.

Helmut Halm wird, als er mit Sabine in einem Straßenkaffee sitzt, von Klaus Buch, seinem alten Schulkameraden, an den er sich beim besten Willen nicht erinnern kann, wiedererkannt und angesprochen. Klaus Buch und seine Frau Helene erscheinen wie der völlige Gegenentwurf zu Helmut: offen, mutig, aufgeschlossen, fröhlich, herausforderungen suchend, optimistisch, kontaktsuchend, aktiv, selbstbewusst. Für sie ist die Welt ein Spiel, eine Herausforderung, der sie sich mit Lust stellen. Sie leben nach strengen Regeln, nur Wasser, kein Wein, sie rauchen nicht, sind streng Öko, Klaus ist Journalist mit dem Fachgebiet Ökologie.

Helmut ist dieser Klaus lästig, er kann ihn aber nicht abschütteln, Buchs suchen den Kontakt. Halm erwischt sich dann aber dabei, Helene nicht unsympathisch zu finden und Sabine wirft ihm, der sich des Abends ihr wieder mal verweigert, an den Kopf: „Dann schlaf ich eben mit Klaus!“, jenem also, der für ihn nur „dieser Klaus Buch“ ist. Spannungen zwischen den Vieren bauen sich auf.

Auf einer gemeinsamen Wanderung, die Helmut zwar planen sollte, die aber mehr oder weniger misslingt, kommt ihnen ein fliehendes Pferd entgegen. Helmut weicht zurück, bringt sich in Sicherheit, Klaus dagegen rennt auf das Pferd zu, kann es zu fassen bekommen, springt auf dessen Rücken, wird davon getragen und kommt dann aber nach einige Zeit zurückgeritten, mit dem beruhigten und besänftigten Pferd. Dies ist der Moment, in dem alle ihn bewundern, in dem auch Helmut ihm Respekt zollt. Für einen Moment scheint das Pferd Sinnbild zu sein für das Leben, dem man sich – so erklärt Klaus – nicht entgegenstellen darf, sondern dem man sich nähern muss, um es zu zähmen, in den Griff zu bekommen.

Klaus Buch lädt Halm zu einer Segelpartie auf dem Bodensee ein, Sabine aber redet sich heraus und so fahren nur Helmut und Klaus hinaus. Der anfänglich ruhige See verwandelt sich bald in ein tosendes Wasser, Böen rasen heran, mit ihnen hohen Wellen, das Boot springt von Woge zu Woge, neigt sich, Wasser schlägt herein. Klaus Buch jubiliert, nimmt diesen Kampf mit den Elementen freudig an, tauft jede Böe und nennt sie beim Namen, während Helmut vor Angst zittert und zum Steuern des Bootes trotz der Anweisungen von Klaus kaum was beitragen kann. Immer zorniger und wütender wird Helmut auf Klaus, der nicht ans rettende Ufer will, sondern sich in der Gefahr wohl zu fühlen scheint. Ähnlich wie er auf das fliehende Pferd zugerannt ist, um es zu bändigen, geht er hier jede Woge an, jede Böe…

Weit muss Klaus sich hinauslehnen über die Bordwand, um das Boot am Kentern zu hindern, Helmut weigert sich, gleiches zu tun. Ob es nun mehr ein Unfall war, eine unwillkürliche Bewegung oder Absicht, jedenfalls: „...Als Helmut sah, daß die über Bord laufenden Wellen jetzt gleich ins Cockpit schlagen würden, stieß er mit einem Fuß Klaus Buch die Pinne aus der Hand. …. Klaus Buch stürzte rückwärts ins Wasser…“ ….und ward nicht mehr gesehen. Wie, weiß Helmut auch nicht, aber irgendwie kommt er mit dem Boot ans Ufer, wird gefunden und ist dann wieder zu Hause bei Sabine.

Was ist passiert? Helmut kommt mit seinem Kierkegaard nicht weiter, beschwichtigt sich („...es war Notwehr…„) aber spricht sich dann selbst Mut zu: „...so darfst du nicht denken, gib ruhig was zu .. du hast eben gelebt in diesem Augenblick, du bist herausgegangen, Ha-Ha [sein alter Spitzname in der Schule], eine Sekunde hast du den Schein nicht geschafft….“ Er scheint ihm zu gefallen, dieser Helmut, der in dieser Sekunde hervortrat, denn er erschreckt Sabine mit seinem Wunsch, einen Waldlauf zu machen, er will Joggen, Fahrräder kaufen, Sportkleidung tragen, ein klausoides Verhalten, sozusagen, welches er an den Tag legt, jetzt, wo Klaus nicht mehr da ist, sogar seine Begriffe benutzt er, jetzt, wo es flutscht…..

Dann kommt Helene zu Halms, um nicht alleine zu sein, sich auszuweinen. Zum ersten Mal seit vielen Jahren isst sie wieder ein Stück Kuchen, welches Sabine ihr anbietet, trinkt den Schnaps, der sie beruhigen soll. Sie kommt ins Erzählen, und es wird deutlich, daß Klaus genauso hinter einer Fassade lebte wie Helmut, nur daß sie anders angestrichen war. Die Selbstsicherheit war nur vorgetäuscht, schon eine kalte Hundeschnauze, die ihn berührte, brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Mit Kollegen war er heillos zerstritten, Helene fühlte sich von ihm unter Druck gesetzt und zu einer Lebensweise genötigt, die sie im Herzen nicht teilte. Wie froh sei Klaus gewesen, seinen alten Schulfreund Ha-Ha zu treffen, wo er doch sonst keinen Menschen hatte, diesen in sich ruhenden, gefestigten Menschen…. fliehen wollte Klaus mit ihr, neu anfangen und ihn, Helmut, mitnehmen, auf die Bahamas, das war sein letzter Plan, zu einen neuen Leben……

Dann plötzlich klingelt es, Klaus steht vor der Tür, sucht Helene und verschwindet wortlos, ohne Erklärung, keinen Blick tauschen sie aus. Aber für Helmut ist es klar, daß hier ein Mensch ist, und dieser Mensch lebt, der ihn durchschaut hat „.. wie ihn noch niemand durchschaut hatte..“ – und er flieht, mit aller Gewalt, so sehr will er fliehen, daß er sogar seiner Sabine droht: „..in einem nichts als erpresserischen, völlig glaubhaften Ton: Dann muss ich allein fahren.“ Sabine kommt mit, sie nehmen einen Zug nach Montpellier, wollen hinter dicke Mauern (die die Hitze, das Leben, aussen halten) und im Zug fängt Helmut an, Sabine die Geschichte von Helmut und Sabine zu erzählen…..

Uiii… als ich anfing zu schreiben, wollte ich eigentlich nur ein paar Bemerkungen machen und auf die Rezension, die ich unten verlinkt habe und die ich für lesenswert halte, verweisen. Jetzt ist es doch ein recht umfangreicher Text geworden. Aber tatsächlich, nachdem ich mich einige wenige -zig Seiten an die walsersche Sprache gewöhnen, mich einlesen musste, hat mich das Buch gepackt und nicht mehr losgelassen. Es ist eine Geschichte, die von der Wahrheit erzählt, der Wahrheit gegenüber sich selbst und gegenüber den anderen, Einsamkeit ist das Thema, auch Einsamkeit in der Zweisamkeit, eine Geschichte von Lebenslügen und Selbstwahrnehmung. Klaus erscheint mir in der Geschichte die Funktion eines Katalysator zu haben, der nach getaner „Arbeit“ wieder verschwindet. Ebenso wie solche Stoffe in der Chemie Reaktionen in Gang setzen, beschleunigen, setzt Klaus in Helmut einen Prozess in Gang, der das reduzierte Bild, das Helmut von sich selbst hat, zerstört. Er gibt ihm seine Vergangenheit wieder, an die sich Helmut nicht erinnern konnte und er zerreißt den Vorhang, mit dem sich Helmut vor der Aussenwelt und auch vor sich selbst bedeckt. Ob Helmut was daraus macht, läßt Walser in der Geschichte offen, die Tatsache, daß Helmut seiner Sabine, dieser starken Frau („…deiner Stärke, von der du nichts weißt.„) die Geschichte von Helmut und Sabine erzählt, sich also dieser ersten Wahrheit (Wahrheiten sind nicht monolithisch, sie tauchen in Schichten auf, eine nach der anderen….) stellt, gibt aber Hoffnung…..

Facit: ein kleines Büchlein voller Inhalt und Stoff zum Nachdenken und Reflektieren

p.s.: auf S. 41 taucht das Wort „Glast“ auf, das ich ja bekanntlich sammle, dadurch ist mir das Buch dann gleich noch sympathischer geworden… ;-)

Link:

eine lesenswerte Rezension

Martin Walser
Ein fliehendes Pferd
Spiegel-Verlag, 2006 (SPIEGEL-Edition Band 22); 160 S.
ISBN-10: 3877630227
ISBN-13: 978-3877630228

10 Kommentare zu „Martin Walser: Ein fliehendes Pferd

  1. Ich lese das Buch auch gerade in meinem Deutsch-LK und finde es nicht wahnsinnig gelungen. Ich bin zwar gerade mal achtzehn, interessiere mich aber für Literatur (auch die, die meine Altersgenossen nicht lesen), dennoch glaube ich ehrlich gesagt nicht, dass es mich interessiert, wenn ich älter oder wie ihr schreibt reifer bin. Meiner Meinung nach ist die Problematik der Geschichte zu leicht zu durchschauen und für eine Novelle finde ich das Ende zu offen. Identitätskrisen sind ein gerade in der Gegenwartsliteratur sehr relevantes Thema, muss aber meiner Meinung nach auch einen interessanten Handlungsstrang haben und wenn man dieses Buch betrachtet, geschieht quasi die ersten 100 Seiten gar nichts.
    Meine Lehrerin findet das Buch übrigens genauso langweilig wie ich, was mich ein bisschen beruhigt :).
    der Film hat mit dem Buch kaum etwas zu tun und ist extrem übersexualisiert, Würde ich also nicht empfehlen…schon gar nicht als Unterrichtsmaterial ;).

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    1. hallo liebe leonie, herzlichen dank für deinen ausführlichen kommentar. erst einmal finde ich es klasse, daß du dich für literatur interessierst, was liest du denn so?
      an walser und sein fliehende pferd kann ich mich kaum noch erinnern, ich muss es zugeben. durch meine besprechung habe ich den inhalt halbwegs präsent, aber mehr auch nicht.. deswegen kann ich zu dem, was du schreibst, auch wenig sagen… tut mir leid! walser ist auch nicht gerade einer meiner lieblingsautoren, und daß die ersten hundert seiten nichts geschieht, ist bei ihm – so glaube ich – gar nicht so selten… ;-)

      liebe grüße
      p.s.: vielleicht hinterläßt du ja noch andere spuren von dir hier auf dem blog, würde mich freuen, wenn du noch mehr von meinen besprechungen liest!

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  2. Na ja, Weltliteratur ist wahrscheinlich wirklich etwas hoch gegriffen… ;-)

    Zur Verfilmung kann ich nichts sagen, aber ich bin überzeugt, als ich unter 25 war, hätte es mir auch nicht gefallen. Euer Deutschlehrer hat das schätzungsweise gut erkannt….

    Danke für deinen Kommentar!

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  3. Ich hab das Buch in meinem Deutsch-Lk gelesen und ich fand es ziemlich langweilig.Es ist für mich keine Weltliteratur und hat mich kein bisschen angesprochen.Die Verfilmung von dem Buch fand ich sogar grauenhaft. Das war die Meinung von fast allen aus meinem Kurs und mein Deutschlehrer meinte, dass es an unserem Alter liegen würde. Ich würde dieses Buch also niemandem unter 25 Jahre empfehlen^^

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  4. hihi.. ja, du hast recht, ich schreibe oft viel, mehr als einem geneigten Leser lieb sein kann. Aber meist sind die Bücher dann doch noch etwas länger als der Bericht von mir, zweitens auch besser und drittens ist es halt auch so, daß ich mich zwar über Gäste hier sehr freue, aber im Grunde für mich schreibe, damit ich mich erinnern kann, wenn ich mal nachlese (was ich tatsächlich auch schon gemacht habe). Und – ich wage es kaum zu sagen – ich bremse mich schon…..

    Was die Verfilmung angeht, ich habe die DVD auf meinem Wunschzettel…

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  5. Ich habe die Verfilmung gesehen (ähh, Ulrich Tukur, Katja Riemann …) Das war ziemlich gut und das Buch scheint es auch zu sein.
    Leider schreibst Du (manchmal zu) viel, so dass ich den Eindruck habe, das Buch ja schon zu kennen. Also, warum noch selbst lesen?

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  6. Es ist ja sogar noch schlimmer, denn solche Vorlieben (lesen, nicht lesen) werden ja auch häufig tradiert: wenn Eltern nicht lesen, keine Bücher zu hause haben, woher sollen die Kinder dann die Freude am Lesen bekommen? Vereinzelt vielleicht, aber in der Tendenz. Schon das nachlassende Vorlesen von Geschichten durch die Eltern (so las ich neulich in der Zeitung) hat negative Auswirkungen, auf die Entwicklung der Kiddies sowieso aber auch auf ihre Lesefreude, wenn wir das mal so sagen wollen….

    Ach, da habe ich es besser gehabt, meine Eltern haben mir immer Bücher gekauft und geschenkt…. kann ich ihnen garnicht genug danken dafür!

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  7. Das klingt ja wirklich nach einem interessanten Buch!
    Aber ich gebe dir recht, ich habe schon immer sehr gerne gelesen und trotzdem oft mehr widerwillig als interessiert die meiste Schullektüre über mich ergehen lassen, so kann man es wohl sagen. Und das, obwohl vieles davon nicht unspannend war. Schade, weil ja gerade die Schule häufig der einzige Ort ist, wo Kinder heute wirklich mit Literatur in Kontakt kommen oder kommen könnten – und die Chance wird vertan. Klar gibt es auch Lehrer, die das schaffen, aber ich kam nicht oft genug in diesen Genuss während meiner Schulzeit. Stattdessen wurden die Werke auf Versmaße durchsucht… Sowas ist dann schade.

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