Stefan Mühldorfer: Tagsüber dieses strahlende Blau

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„Tagsüber dieses strahlende Blau“, die Schilderung eines Tages im Leben des Robert Ames, Versicherungsvertreter in Hamilton, Kanada. Ames ist kein Vertreter der plumpen Art, er ist ein scharfsinniger Beobachter seiner Mitmenschen, der versucht, deren Bedürfnisse zu erkennen und zu befriedigen. Verheiratet mit Kala, hat er einen kleinen Sohn, er ist mit seiner Arbeit zufrieden, seine Ehe ist in seinen Augen wie nach einigen Jahren nicht anders zu erwarten, durch Höhen und Tiefen gegangen, aber stabil trotz einer gewissen Entfremdung, die er sich eingesteht. Er hat latente erotische Phantasien, auch ein Verhältnis zu einer anderen Frau hat es gegeben, aber einen solchen Seitensprung hat auch Kala hinter sich.

Er hält sein Leben für stabil, als er an diesem Morgen aufsteht und doch bricht es im Lauf des Tages in sich zusammen wie ein von Termiten zerfressenes Holzhaus. Sein Chef bittet ihn, einen Klientenbesuch für ihn zu übernehmen, bei dem er eine ehemalige Mitschülerin trifft, in die er seinerzeit heimlich verliebt war. Sofort blüht seine Fantasie auf und er ist gutgelaunt, bis er in seiner Mittagspause, die er in einem kleinen Lokal verbringt, zufällig auf seine Frau trifft, die in Begleitung eines anderen Mannes ist.

Es entsteht ein Disput zwischen beiden, der sehr schnell die bis dahin unterschwellige Entfremdung der beiden offenlegt. Ein paar falsche Worte zur falschen Zeit und die Ereignisse überrollen Robert Ames, der glaubte, sein Leben im Griff zu haben. Plötzlich hat das Lavieren, das Kompromisse schließen und sich nicht Festlegen wollen ein Ende, er ist eigentlich Statist geworden in seinem Leben, denn die Geschehnisse um ihn herum laufen ab, ohne daß er sie weiter beeinflussen kann.

Es ist erstaunlich, wie fesselnd Mühldorf die Gedankenwelt dieses Mannes darstellt und schildert. Hin und hergerissen ist Robert zwischen seinen Träumen und der Realität, er will beides, seine Träume mit all ihrem Risiko leben und die Wirklichkeit mit ihrer Sicherheit, die sie ihm bietet, nicht verlieren. Er ahnt, daß eine Entscheidung fällig ist zwischen diesen beiden Polen, daß man nicht beides haben kann, ist aber unfähig, sie zu treffen. Dieses Pendeln zwischen zwei Alternativen (und das Scheitern derselben) beobachtet und analysiert Robert sehr scharfsinnig an seinem Chef, der seine Frau betrügt und ebenfalls glaubt, beides ließe sich verbinden – nicht wissend, daß er hier einen Spiegel seine eigene Situation vor sich sieht.

Robert Ames stellt die Normalität dar, das Leben, das sich den Kompromissen ergeben hat, das vor sich hinläuft, das die vordergründige Sicherheit eines in Ritualen erstarrten Alltags dem risikobehafteten Ausbruch aus diesem Korsett und dem Versuch, seine Träume zu leben, den Vorzug gibt. Diesen Entwurf läßt Mühldorfer in seinem Roman scheitern, denn sein Protagonist, der alles in Grund und Boden analysiert, verliert gerade dadurch seine Handlungsfähigkeit und wird zum Opfer seines eigenen Beharrungsvermögens. Dies so klar und deutlich herausgearbeitet zu haben in einem Roman, der spannend ist wie ein guter Krimi, das im beeindruckend!

Facit: das Buch empfehle ich ohne Einschränkung

Stefan Mühldorfer
Tagsüber dieses strahlende Blau
dtv, April 2009, 238 S
ISBN-10: 3423247150
ISBN-13: 978-3423247153

2 Kommentare zu „Stefan Mühldorfer: Tagsüber dieses strahlende Blau

  1. Ich kann mich dem auch nur anschließen und den Roman empfehlen. Mühldorfer hat sehr feinfühlig herausgearbeitet, wie sich Robert Ames einerseits zu seiner Frau hingezogen fühlt, andererseits zu seiner entdeckten Jugendliebe. Er ist hingerissen von seinen Träumen und alles Geschehen scheint ihn mit Macht überrollt zu haben. Robert ist umgeben von gescheiterten Beziehungen: sein Chef geht fremd und dessen Frau unterhält sich mit ihm auf einer Feier, bis es eskaliert; seine Kollegin hat sich von ihrem Partner getrennt; seine Frau gesteht ihm einen Seitensprung. Das muss erst einmal verarbeitet werden!

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